Was ist das Besondere am „gleichTanzen“? Unterscheidet sich gleichgeschlechtliches Paartanzen nur dadurch vom gemischt-geschlechtlichen, dass Frauen mit Frauen und Männer mit Männern tanzen? Was bedeuten „queeres“ und „equality“ Tanzen?
Gibt es eine eigene Ästhetik des gleichTanzens? Und wenn ja, welche ästhetischen Maßstäbe legen wir an? Wie sieht es mit unseren eigenen Sehgewohnheiten aus, wenn z.B. besonders kleine Personen besonders große führen, wenn Männer besonders „feminin“ oder Frauen besonders „maskulin“ tanzen usw.? Wie steht es um den Anspruch des „Führungswechsels“? Wie steht es eigentlich um die Integration des gleichTanz-Turniersports in den offiziellen (gemischtTanz) Turnierbetrieb?
In einer kleinen Beitragsserie wollen wir uns in den nächsten Wochen diesen Fragestellungen annähern und haben schon einiges in petto. Daneben versuche ich, einen „Grundlagen-Beitrag“ zum Thema zu schreiben, aber an dem sitze ich bereits eine kleine Weile, und es ist noch unklar, ob er jemals fertig werden wird …
Umso mehr würden wir uns über Beiträge unserer Leser*innen zu diesen Themen würden wir uns freuen. Und nicht vergessen: Jede*r registrierte*r Nutzer*in von GleichTanz.de kann sich einloggen und direkt einen für alle sichtbaren Kommentar unter einen Artikel schreiben!
Als ein erster Einstieg zum Thema im Folgenden mein fast vier Jahre alter Beitrag „Überlegungen …“, den ich heute natürlich an ein paar Stellen ändern würde. Dieser kleine Artikel war im Juni 2013 auch der erste Beitrag auf GleichTanz.de, quasi ein kleines Grundlagenprogramm – begleitet von dem Beitrag „Über uns„, in dem ich eher meine persönliche „Tanzgeschichte“ berichte – das den emanzipationspolitischen Anspruch und Hintergrund, sowie die persönliche Motivation zur Herausgabe von GleichTanz.de erläutern sollten:
Tanzen & Paartanz
Tanzen als eine Bewegung zu einem Rhythmus, als ein Ritual oder als ein Gefühlsausdruck ist vermutlich so alt wie die Menschheit, und die frühesten erhaltenen Höhlenmalereien, die eine Tanzformation darstellen, sind 7.000 Jahre alt. Menschen (und scheinbar auch manche Tierarten) können alleine tanzen, als Gruppe (im Kreis, in der Reihe oder in einer bestimmten Formation) oder eben als Paar.
Im Paartanz bewegen sich zwei Personen nach den Regeln des jeweiligen Tanzes, und dabei “führt” eine Person mit Hilfe von körperlichen Signalen und die andere “folgt”. Diese Rollenaufteilung kann von einem Paar langfristig festgelegt werden, bei gemischt-geschlechtlichen Paaren gibt es diesbezüglich zumeist eine traditionelle Rollenverteilung, letztendlich ist es aber eine “Verhandlungssache”. Diese Rollen können aber auch von Tanz zu Tanz wechseln oder sogar innerhalb eines Tanzes (z.B. der Führungswechsel als Teil einer einstudierten Choreographie bei gleichgeschlechtlich tanzenden Turnierpaaren).
Gleichgeschlechtlicher Paartanz
Dass gleichgeschlechtliche Paare miteinander tanzen, hat es früher vermutlich nur im ganz privaten Bereich gegeben, und ist meines Wissens nach erst mit Beginn früherer sexualemanzipatorischer Ansätze in den 1920er Jahren in einem halböffentlichen Bereich möglich gewesen: In verborgenen und nur einschlägig bekannten, ersten Lokalen für “Urninge”, “Invertierte”, Angehörige des “dritten Geschlechts” oder welche Bezeichnungen auch immer damals entwickelt wurden, dort konnten Männerpaare oder Frauenpaare auf beengtem Raum endlich ein Tänzchen miteinander wagen.
Gleichgeschlechtlich partnerorientierte Menschen hatten vor 100 Jahren aufgrund ihrer als Makel und Defizit erlebten Orientierung überwiegend ein angeknacktes, geringes Selbstbewusstsein und lebten in einem Umfeld, das noch recht weit von dem “Entwicklungsstand” heutiger gesellschaftlicher Emanzipation entfernt war. So kam es, dass gleichgeschlechtliche Tanzpaare zumeist nur die heterosexuellen Paare nachahmten, und sich stereotyp weiblich bzw. männlich gaben, eine/r war “die Frau” und eine/r “der Mann”.
Die Herausbildung einer eigenen gleichgeschlechtlichen Tanzästhetik, mit mehr Distanz zu traditionellen Rollenklischees, hat meines Wissens erst ab der modernen Schwulen- und Frauen-/Lesbenbewegung (seit den 1970ern) – und auf dem generellen Hintergrund der Entstehung einer moderneren/”alternativen” Paartanzkultur (seit den 1980ern), die ebenfalls den spießigen Tanzschulenmief abwerfen wollte – begonnen. Einen weiteren qualitativen Sprung in der Entwicklung einer eigenen GleichTanz-Ästhetik wird seit Mitte der 1990er Jahre gemacht – durch die Entstehung einer leistungsorientierten gleichgeschlechtlichen Tanzsport- und Turnier-Szene.
Gesellschaftliche Revolutionen vom Tanzboden ausgehend?
Parallel dazu bzw. als ein sich wechselseitig immer wieder beeinflussender Prozess traten gleichgeschlechtliche Paare allmählich in gemischt-geschlechtliche Räume ein. In alternativen Tanzschulen traten etwa Männerpaare auf, und bei den obligatorischen “Partnerwechseln” tanzten plötzlich heterosexuelle Männer mit schwulen Männern, was in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft einen ziemlich großen Tabubruch darstellte. Oder Frauenpaare, die auf Partys und Bällen eng umschlungen miteinander tanzen und bei denen klar ist, dass sie sicher nicht nur als gute Freundinnen notgedrungen zusammen tanzen „müssen“, weil sie entweder “ledig”, verwitwet oder mit einem Tanzmuffel verheirtatet sind.
“Guck´mal, da tanzen zwei Männer miteinander,” hörte ich im Vorbeigehen vor zwei Wochen eine Mittvierzigerin zu ihrem Partner beim Salsa-Tanzabend in der “Strandbar Mitte” sagen. Das Paar stand am oberen Rand des kleinen Amphitheaters und blickte hinunter auf die Tanzfläche, auf der auch drei gleichgeschlechtliche Paare unseres Salsa-Tanzkurses unter all den gemischt-geschlechtlichen Paaren tanzten. Die beiden wirkten vom äußeren Eindruck her eher “alternativ” und ökologisch orientiert, und sie hatten scheinbar tatsächlich noch nie selbst und direkt zwei Männer zusammen tanzen gesehen! Was mag das bei ihnen ausgelöst haben?
Wenn zwei Frauen oder zwei Männer miteinander tanzen, dann ist das immer auch ein Stückchen Aufklärungsarbeit, denn hier werden Lesben und Schwule ganz konkret sichtbar – und dass auch noch im körperlichen Kontakt und, je nach Tanz und Paar, vielleicht sogar im zärtlichen Umgang oder erotischen Spiel miteinander. Dadurch werden die über Jahrhunderte zementierten heterosexuell normierten Seh- und Denkgewohnheiten zumindest irritiert und in Frage gestellt, und die Sehgewohnheiten können sich vielleicht langsam verändern und irgendwann vielleicht sogar auch die Denkgewohnheiten …
Fazit: Als Tanzpaar gleichgeschlechtlich zusammen tanzen (egal übrigens, ob die Beteiligten homo, hetero, bi, trans*, inter* oder queer sind), macht also nicht nur viel Spaß, sondern leistet darüber hinaus auch noch einen nicht zu unterschätzenden gesellschaftlich-emanzipatorischen Beitrag.
26. Juni 2013 / Günther Schon