Berlin –
Nasser hat seine Eltern verloren, weil er schwul ist. Für sie ist seine Homosexualität ein Laster, von dem sie ihn kurieren wollten. Erst bedrohten und misshandelten sie ihn, dann suchten sie eine Braut für ihn, und als er sich widerspenstig zeigte, entführten sie ihn. Den eigenen Sohn. Nasser war damals 15 Jahre alt. Heute ist er volljährig. Er kann sich jetzt wehren. Er bringt seine Familie vor Gericht.
Am 12. März, genau in zwei Wochen, beginnt die Verhandlung am Amtsgericht Tiergarten. Aber jetzt sitzt er erst einmal im Bürgermeisterbüro Friedrichshain-Kreuzberg, neben ihm Monika Herrmann, die Bürgermeisterin sowie Sozialarbeiter und Mitarbeiter des Jugendamtes, vor ihm fünf Journalisten, viermal Presse, einmal Radio. Ein kleiner, ausgesuchter Kreis, ein ungewöhnlicher Auftritt.
Nasser trägt ein weißes Hemd, schwarze Ohrringe, seine Augen sind strahlend blau. Er sieht aus wie ein Popsänger. Seine Haltung ist sehr aufrecht, seine Stimme klar. Er sagt, er wolle mit seinem Fall in die Öffentlichkeit gehen, endlich erzählen, was ihm passiert ist, um anderen klarzumachen, dass man sich wehren kann. Das Gericht hat ihm angeboten, den Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen, wie das bei Minderjährigen üblich ist. Er hat abgelehnt. Er scheint sehr überzeugt von seiner Sache, er will sogar seinen vollen Namen in der Zeitung lesen. Wir nennen ihn dennoch nicht, um ihn zu schützen, vor seiner Familie und auch vor sich selbst. Die folgenden Schilderungen der Umstände und Ereignisse sind Nassers Sicht auf die Dinge.
Nasser ist in Berlin geboren, aber seine Familie stammt aus dem Libanon. Er hat Verwandte in Neukölln, Kreuzberg und in der Heimat seiner Eltern. Sie haben jung geheiratet. Die Mutter war 14, der Vater 20. Ihm gegenüber sprachen sie von einer Liebesheirat, sagt er. Heute bezweifelt er das. Seine Mutter war doch noch so jung, und beide stammen aus sehr konservativen Familien, mit strikten Moralvorstellungen, die sie aus dem Islam ableiten. „Meine Eltern, meine Onkel und Tanten glauben, dass Homosexualität eine Todsünde ist.“
Coming-out mit 15
Seine Kindheit verlief scheinbar normal, die Wohnung mitten in Berlin, drei Geschwister, deutsche und arabische Schulfreunde. Dass er homosexuell ist, hat er früh gewusst. Mit 15 erzählte er es unter Freunden. Eine Mitschülerin war so schockiert, dass sie es seinen Eltern weitererzählte. Die reagierten fassungslos. „Meine Mutter hat laut lamentiert, ihr Sohn sei eine Schwuchtel, mein Vater gesagt, er wird mir ein Messer in den Hals rammen.“ Nasser hatte Gründe zu glauben, dass solche Drohungen auch in die Tat umgesetzt werden. Ein Onkel habe ihn bereits früher mit Benzin übergossen und gedroht, ihn anzuzünden, nur weil er vermutete, Nasser sei schwul.
Die Eltern hätten ihn ausgepeitscht. Am Tisch der Bezirksbürgermeisterin hält Nasser seinen Arm hoch und zeigt auf eine Narbe. „Die habe ich, weil sie mich mit kochendem Wasser übergossen haben. Aber damals durfte ich es niemandem erzählen. Im Krankenhaus habe ich irgendeine Geschichte erfunden.“
Nach der Drohung des Vaters rannte er von zu Hause weg. Es war der 15.10.2012. Nassan war 15. Er wusste nicht, wohin. „Ich kannte niemanden. Die meisten Eltern meiner Freunde hätten mich sofort wieder nach Hause gebracht“, sagt er. Zur Polizei traute er sich auch nicht. Zu oft hatte man ihm eingebläut, dass die Beamten ihn sowieso nur wieder zu Hause abliefern würden. Bei einem deutschen Freund kam er unter, ging aber nach zehn Tagen wieder nach Hause.
Seine Mutter habe ihn unerwartet freundlich empfangen, sagt Nasser. Die Familie hatte sich nun etwas anderes ausgedacht. Er sei jetzt verlobt, wurde ihm mitgeteilt. In wenigen Wochen werde er heiraten. Der nächste Schock. „Ich wollte so nicht leben, ein Leben mit unterdrückter Homosexualität“, sagt er. Und erzählt von Telefongesprächen mit einem schwulen Bekannten im Libanon, der verheiratet ist und ein Kind hat. Er hasst sein Leben.
Von Zwangsverheiratung spricht man, wenn mindestens einer der Eheleute durch die Ausübung von Gewalt oder Drohung zum Eingehen einer Ehe gezwungen wird.
Betroffen sind in erster Linie Mädchen und Frauen, es kommt aber auch bei Jungen und Männern dazu. Seit Februar 2005 gilt Zwangsverheiratung als ein besonders schwerer Fall der Nötigung, der mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft wird.
Seit 2011 ist Zwangsheirat ein eigenständiger Straftatbestand im Strafgesetzbuch. Das Bundesfamilienministerium veröffentlichte 2011 eine Studie, in der die Fälle in Beratungseinrichtungen ausgewertet wurden. Erfasst wurden 773 Fälle, davon waren
736 weiblich und 37 männlich.
Im Sommer 2014 führte der Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung bei Behörden, Schulen, Beratungsstellen eine Umfrage zum Ausmaß von Zwangsverheiratungen in Berlin bezogen auf das Jahr 2013 durch. 460 Fälle von Zwangsverheiratungen wurden erfasst, 18 Prozent mehr als bei der letzten Befragung 2007.
Allerdings lag auch die Zahl befragter Einrichtungen um 25 Prozent höher. Betroffen waren 431 Mädchen und Frauen und 29 Jungen und Männer.
2007 waren zwölf Betroffene männlich.
Nasser lief wieder weg. Diesmal wendete er sich ans Jugendamt. Die Betreuer dort brachten ihn in einer Einrichtung unter, in der Jugendliche, die aus unterschiedlichen Gründen nicht bei ihren Eltern leben können, gemeinsam wohnen. Nasser lebt unter falschem Namen dort. Auch in der Schule, die er heute besucht, kennt man seinen wirklichen Namen nicht. Nasser bekam einen amtlichen Betreuer, das Sorgerecht wurde den Eltern entzogen. Täglich sollte er sich von nun an beim Jugendamt melden. Sein Aufenthaltsort wurde auf Berlin beschränkt. Die beteiligten Behörden hielten die Familie offenbar für gefährlich.
Trotzdem ließ er sich bald wieder zu einem Treffen mit der Mutter überreden. Doch zum verabredeten Zeitpunkt in der elterlichen Wohnung war sie gar nicht da. Stattdessen warteten acht Onkel und sein Vater auf ihn. „Sie waren ganz nett. Es gab etwas zu trinken. Tee und Cola. Aber in den Getränken war ein Schlafmittel“, sagt er. Ihm sei schwindelig geworden. Das nächste, woran er sich erinnert, ist, dass er in einem Auto saß, mit den Onkeln und seinem Vater. Das Ziel sei der Libanon gewesen, sagt Nasser. Sein Vater habe ihm im Auto gesagt, er werde ihn dort an den Galgen bringen. Um Heirat ging es nicht mehr. An der rumänisch-bulgarischen Grenze stoppten allerdings Grenzbeamte die Fahrt. Das Jugendamt hatte, als die tägliche Lebendmeldung ausblieb, Vermisstenanzeige erstattet. Nasser wurde zurück nach Berlin gebracht.
An Nassers Pressekonferenz im Bürgermeisterinnenbüro nehmen an diesem Tag auch zwei Mitarbeiterinnen von Papatya und Wildwasser teil. Sie kennen Geschichten wie die von Nasser. Allerdings vor allem von Mädchen. „Es passiert öfter, dass Jugendliche verschleppt werden“, sagt Birim Bayam von Papatya, einer Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen. Sie macht auf eine Lücke im Berliner Interventionssystem aufmerksam.
Es gibt Frauenhäuser und Mädcheneinrichtungen. Auf Jungs als Opfer ist man in Berlin nicht eingerichtet. Für sie gebe es so gut wie keine Beratung, höchstens durch den Lesben- und Schwulenverband. Dorthin wenden sich aber nur von Zwangsverheiratung betroffene Homosexuelle. „Vor allem an Unterbringungsmöglichkeiten fehlt es. Die Kriseneinrichtungen sind alle voll, und sie sind auf Kinder und Jugendliche sowie Frauen spezialisiert. Für junge Männer gibt es im Grunde nichts“, sagt die Pädagogin. Deshalb wohnt Nasser noch immer in einer Wohnung des Jugendamts.
Nasser sagt, er habe keine Angst mehr vor seinen Eltern. Trotz der Entführung, der Misshandlungen, dem Auspeitschen, dem kochenden Wasser, dem Geruch von Benzin?
Er sitzt zwischen den Frauen vom Jugendamt und der Bürgermeisterin, er lacht, er scheint sich wohlzufühlen, sicher. Er sagt, er habe seine Angst überwunden. Man möchte es ihm glauben, aber es fällt schwer. Die Familie ist groß, und die wenigen, zu denen er noch Kontakt hält, haben ihn aus Angst gebeten, ihre Identität geheim zu halten. Vielleicht sollte er vorsichtiger sein.
Keine Lust auf Rache
„Mutig ist das, was er macht“, sagen die Sozialarbeiter, die sich um den jungen Mann geschart haben. Sie meinen leichtsinnig, auch wenn sie es nicht sagen. Sie berichten von ähnlichen Fällen, die tödlich ausgegangen sind. Aber Nasser ist unbeirrt. „Ich bin nicht rachsüchtig, aber ich möchte zeigen, was in Berlin passiert“, sagt er. Und so lassen sie ihn reden, auch wenn sie Bauchschmerzen haben und darum bitten, keine Details über seinen Aufenthaltsort, seine Schule, seine Geschwister preiszugeben.
Seine Verwandten zeigen sich nach wie vor uneinsichtig. Neulich ist Nasser auf einer Schwulendemonstration mitgelaufen. Da ist er seinem Vater das erste Mal seit langem wiederbegegnet. Der Vater stand am Straßenrand, hat ihn direkt angeschaut, aber keine Miene verzogen. Sie sind sich begegnet wie Fremde. Die Mutter postet auf Facebook, sie bereue nichts, und die jüngeren Geschwister erzählen in der Schule, Homosexuelle gehörten eingesperrt, sagt Nasser. Vielleicht ist auch das ein Motiv für seine Offensive: der Wunsch, nicht länger Opfer zu sein, sondern die Dinge zu schildern, wie sie gewesen sind.
Drei Angeklagte, seine beiden Onkel und sein Vater, müssen sich am 12. März verantworten, weil sie Nasser, obwohl er unter Pflegschaft stand, entführt haben sollen und erst durch rumänische Grenzbeamte gestoppt werden konnten. Seine Mutter wird wahrscheinlich nur als Zeugin geladen.
Die Anklage beim Prozess lautet auf Entziehung Minderjähriger und Freiheitsberaubung. Der Versuch, Nasser gegen seinen Willen zu verheiraten, ist nicht Teil der Anklage, obwohl dies seit 2011 ein eigener Straftatbestand ist. „Eine bevorstehende Zwangsheirat ist in den seltensten Fällen nachweisbar“, sagt die Gleichstellungsbeauftragte des Bezirks Petra Koch-Knöbel, die ebenfalls an Nassers Pressekonferenz teilnimmt. Oft würden Betroffene die eigenen Eltern nicht anzeigen, und selbst wenn, stünde Aussage gegen Aussage. Dass die Familie an der Grenze mit Nasser gefasst wurde, obwohl es einen gegenteiligen Beschluss des Familiengerichts gab, ist allerdings nachweisbar.
Nasser kann sich nicht vorstellen, wie es sein wird, wenn er den Eltern in zwei Wochen im Gericht wieder gegenüberstehen wird. Was empfindet er, wenn er an sie denkt? „Na ja, es sind die Eltern“, sagt er, „wenn sie auf der Straße angegriffen würden, würde ich ihnen trotz allem helfen.“ Er hat durch den Kampf für sein selbstbestimmtes Leben viel Zeit in seiner Entwicklung verloren. Er macht jetzt seinen mittleren Schulabschluss nach. Dann will er Flugbegleiter werden. „Wenn ich geheiratet hätte, wäre für die Familie alles in Ordnung gewesen“, sagt er und lacht bei dieser Vorstellung, ungläubig und stolz, seinen eigenen Weg gefunden zu haben.