Ein informativer Tagesspiegel-Artikel über den Beginn der frühen Homosexuellen-Bewegung vor mehr als hundert Jahren …
An dem Ort, an dem Berlin zum Zentrum einer weltweiten Bewegung wurde, gibt es heute 40 Prozent Rabatt auf French Nails. Neben dem Nagelstudio schwächeln die roten Halogenleuchten der Sparkasse, gegenüber glänzt das Charlottenburger Rathaus. Ein Flackern legt sich auf die Büste eines Mannes, der vor 80 Jahren gestorben ist, am 14. Mai 1935, und der, so die Inschrift, bis heute zu Toleranz und Akzeptanz gegenüber Minderheiten mahnt. Die Büste steht auf städtischem Boden; der Hausbesitzer der Otto-Suhr-Allee 93 wollte keine Gedenktafel für einen Perversen.
118 Jahre zuvor, 1897. Der Perverse hat in seine Privatwohnung eingeladen. Die Otto-Suhr-Alle heißt da noch Berliner Straße, Hausnummer 104. Nun sitzen drei Männer hier, allesamt um die vierzig, und hören dem 29-jährigen Gastgeber zu. Magnus Hirschfeld, promovierter Mediziner und Sexualforscher, spricht vom gesellschaftlichen Zwang, der viele Homosexuelle erdrückt, von ungerechten, entmenschlichenden Strafgesetzen, vom Unsinn der menschlichen Zweigeschlechtlichkeit. Hirschfeld legt 100 Mark auf den Tisch. Der reiche Bülow legt 200 dazu, die Herren Spohr und Oberg jeweils 100. Das Geld soll die ersten Unkosten decken – für die Gründung eines Komitees, dessen Ziel die Abschaffung von Paragraf 175 des Reichsstrafgesetzbuches ist. Jener Paragraf, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellt.
Das Charlottenburger Treffen am Samstag, dem 15.Mai 1897, wird man später als den Anfang einer Bewegung betrachten; einer Emanzipation, einem Anstoß zur Fortschrittlichkeit. Und man wird davon sprechen, wie zerbrechlich dieser Fortschritt ist. Wie es Flügelkämpfe gibt, zwischen Wissenschaftlern und Ideologen, zwischen Antisemiten und dem jungen schwulen jüdischen Arzt Magnus Hirschfeld aus der Berliner Straße 104. Es wird Verirrungen geben innerhalb der Homosexuellenbewegung: Frauenfeindlichkeit, Knabenliebe, „Rassenhygiene“.
Am Ende der Geschichte steht die Erkenntnis, dass der Kampf für Befreiung, Respekt und Gleichberechtigung nicht linear ist, dass er brüchig ist. Dass eine Bewegung Höhen, Tiefen und tote Enden hat. Und dass das Wohlwollen in Staat und Bevölkerung nur so lange elastisch ist, bis es reißt. „In den Zwanzigern war man auf einem ähnlichen Stand wie heute“, sagt Jens Dobler.
Seitdem ist viel passiert.
Die Berliner wussten Bescheid
April 2015. Dobler, der Archiv- und Bibliotheksleiter des Schwulen Museums, sitzt in seinem Büro in der Lützowstraße in Schöneberg. Auf dem Weg zu Doblers Büro läuft man an der deutschlandweit umfassendsten Sammlung an wissenschaftlicher Literatur über Homosexualität vorbei.
Der promovierte Historiker hat viele Bücher und Aufsätze zur frühen Schwulenbewegung veröffentlicht. „In Berlin waren Ende des 19. Jahrhunderts ausgefallene Kostümbälle angesagt – und da war auch klar, wer da hingeht.“ Die Schneider wussten Bescheid, mussten sie doch extravagante Kleider nähen. Die Kutscher wussten Bescheid, brachten sie doch die als Frauen verkleideten Männer und die als Männer verkleideten Frauen zum Ball. „Das war keine Hinterhof-Geschichte. Die mieteten sich die edelsten Adressen der Stadt.“ Einer der bekanntesten Schwulentreffs in der Stadt war die Pariser Bar am Pariser Platz, im Keller der französischen Botschaft. Die Bälle wurden in einschlägigen Zeitschriften angekündigt.
„Die Polizei wusste das alles“, sagt Dobler. Sie war sogar aktiv beteiligt. Mit Journalisten, Schriftstellern, Interessierten organisierte der Leiter der Schwulenbehörde der Polizei, Leopold von Meerscheid-Hüllessem, Touren durch die Szene. „Da ließen sich die Polizisten die Crossdresser vorführen, die tanzten ihnen dann vor.“
Die Berliner waren es gewohnt, sagt Dobler, „den meisten war es einfach egal“. Diese Gewöhnung, dieses Verständnis für Homosexualität, kam jedoch nicht aus dem Nichts. Dobler tippt mit dem Finger auf ein Heft, das vor ihm auf dem Tisch liegt: „Karl-Heinrich Ulrichs in Berlin“. Die Bewegung beginnt zwar in Hirschfelds Charlottenburger Wohnung, es war jedoch jener Ulrichs, mit dem alles begann.
Karl-Heinrich Ulrichs – der erste Schwulenaktivist der Welt
Am 2. Dezember 1846, ein halbes Jahrhundert vor Hirschfelds Charlottenburger Zirkel, schreibt sich der 21-jährige Ulrichs an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität im Fach Rechtswissenschaften ein. Er wohnt zur Untermiete in der Marienstraße 23 in Mitte, seine Nachbarn sind Barbiere, Schuhmacher, Viktualienhändler, preußisches Kleinbürgertum.
Ulrichs’ Geschichte ist die eines Vordenkers. Einer, der zu früh dran war. Berlin, Brandenburg und Preußen sind Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht bereit für ihn. Ulrichs gilt als der erste Mensch, der offen dazu steht, schwul zu sein. Er kämpft als Jurist zeitlebens für die Anerkennung, dass Homosexualität etwas Angeborenes ist. Ulrichs beschreibt, was wir heute unter Homosexualität verstehen, definiert sie lange vor der Erfindung des Wortes „homosexuell“, das 1868 von seinem österreichischen Mitstreiter Karl-Maria Kertbeny erfunden wird – zusammen mit „heterosexuell“.
Vor Kertbeny war das heute vergessene Wort „Urning“ gebräuchlich, das Ulrichs erfand. Es stammt aus dem 1864 veröffentlichten Pamphlet „Vindex. Forschungen ueber das Raethsel der mannmaennlichen Liebe“. Darin definiert Ulrichs zwei angeborene sexuelle Identitäten: Den Urning und den Dioning. Der Urning – nach dem griechischen Himmelsgott Uranus, der seine Tochter Aphrodite ohne weibliches Zutun gebar – ist das, was später homosexuell heißen wird. Der Dioning – nach Dionysos – ist heterosexuell. In späteren Werken werden auch Urninden, Lesben, dazukommen. „Vindex“ bedeutet Rächer, Beschützer; Ulrichs versteht sich als Kämpfer gegen das Unrecht.
Karl-Heinrich Ulrichs ist der erste Schwulenaktivist der Welt
Homosexuelle werden von Ulrichs’ Zeitgenossen verstanden als Opfer des schwachen Willens, der Perversion. Meist wird jede sexuelle Veranlagung, die als abseitig gilt, zusammengeworfen unter dem christlichen Begriff Sodomie.
Medizinische Handbücher aus der Mitte des 19. Jahrhunderts beschreiben „Abzehrung, Schwindsucht, Wassersucht“ nach gleichgeschlechtlichen Akten (Dr. Adolph Henke); Sodomiten hätten „übermäßig ausgeprägte Gesäße, trichterförmige Verformung des Sphincter, Rippen und Hautlappen um den Anus, sie leiden an Inkontinenz“ (Dr. Auguste Ambroise Tardieu); die größte Ähnlichkeit hätte der Sodomitenpenis mit dem des Hundes, er sei „dünn, klein und spitz“.
Ulrichs wehrt sich dagegen. Er veröffentlicht zwölf Pamphlete, einige davon werden auch auf der Leipziger Buchmesse verkauft. Für Ulrichs ist die sexuelle Befriedigung ein gottgegebenes Recht; er passt seine Streitschriften sogar einem kirchlichen Rahmen an – in der Bibel sei von Sodomiten die Rede, wer jedoch die naturgegebene Veranlagung eines Urning habe, sündige nicht. Der Urning sei ein gleichberechtigtes Wesen, ein „Drittes Geschlecht“.
Die meisten von Ulrichs’ Schriften werden schnell verboten. In der „ Deutschen Allgemeinen Zeitung“ schreibt er: „Meine Schriften sind die Stimme einer sozial unterdrückten Minderheit, die jetzt einfordert, gehört zu werden.“
Am 29. August 1867 betritt der mittlerweile 41-jährige Karl-Heinrich Ulrichs die Odeonshalle in München. Er will eine Rede halten, in der er fordert, alle gegen Urninge gerichteten Paragrafen im Strafgesetzbuch abzuschaffen. Sein Publikum: die Versammlung des deutschen Juristentags. 500 Zuhörer sind gekommen, einige haben schon Proteste angekündigt. Und so kommt es: Ulrichs beginnt seine Rede, es gibt „Halt“-Schreie, er setzt neu an, aber hat keine Chance gegen die johlende Menge. Ulrichs verlässt die Halle. Der Kämpfer gegen das Unrecht wird vom Recht bekämpft.
Einige Mediziner und Psychiater aber nähern sich Ulrichs. Seine Schriften beeindrucken Richard von Krafft-Ebing, den wohl einflussreichsten Psychiater vor Sigmund Freud. Einen besonders mächtigen Freund findet Ulrichs in Rudolf Virchow, Gründer der modernen Pathologie, Reichstagsabgeordneter und Vorsitzender der „Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen“. In einem von Reichskanzler Otto von Bismarck angeordneten Bericht schrieb Virchow am 24. März 1869: Er wüsste nicht „irgend welche Gründe dafür beizubringen, dass, während andere Arten der Unzucht vom Strafgesetze unberücksichtigt gelassen werden, gerade die Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts mit Strafe bedroht werden sollte“. Virchow legte dem Reichstag nahe, das geplante Strafgesetz 175 abzulehnen.
Bismarck jedoch stimmt dem Gesetz zu.
Bismarck begründet dies mit der „öffentlichen Meinung“. Die ist zu jener Zeit geprägt von einem spektakulären Kriminalfall. Im Keller eines Wohnhauses in Friedrichshain soll der Leutnant a. D. und Maler Alexander von Zastrow den achtjährigen Emil Handke mit einem Spazierstock vergewaltigt haben. Auch der Mord am 16-jährigen Bäckerlehrling Ernst Corny wird dem Homosexuellen vorgeworfen. Der Prozess erregt die Stadt. Die Polizei kann den Angeklagten nicht einmal von der Stadtvogtei am Molkenmarkt zum Schwurgericht in der Klosterstraße transportieren. Zu groß ist die Gefahr, Zastrow könnte vom Mob gelyncht werden. Die Anschuldigungen sind bis heute unbewiesen. Trotzdem gilt, was 1914 der Journalist Hugo Friedländer schreibt: „Daß die Ermordung Cornys, das Attentat auf den Knaben Handke, und ganz besonders der Prozeß der homosexuellen Sache ungemein geschadet haben, ist sehr erklärlich.“ Ohne den „Kinderschänder von Friedrichshain“ hätte es wohl den Paragrafen 175 nicht gegeben, der 1871 unter folgendem Wortlaut ins Strafgesetzbuch aufgenommen wird:
„Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“
28 Jahre später. Die vier Herren in der Berliner Straße 104 beenden ihr Treffen. Sie haben soeben das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ (WhK) gegründet. Es ist Forschungsinstitut und Agitprop-Gruppe, Veranstalter und Denkfabrik, es publiziert Flugblätter, Pamphlete, Bücher, ganze Standardwerke. Die Gründer: Magnus Hirschfeld, schwul, aber nie geoutet, trotz langjähriger Partnerschaften mit verschiedenen Männern. Er ist der Erste, der sich mit Homosexualität als wissenschaftlichem Forschungsgebiet befasst. Max Spohr, Verleger aus Leipzig, in dessen Verlag Hirschfelds Arbeiten veröffentlicht werden. Über Eduard Oberg, einen Juristen, ist nicht viel bekannt. Der Vierte, der Reiche, ist Franz Joseph von Bülow, ein Schriftsteller, für das WhK vor allem deshalb wichtig, weil er ein Freund des Leiters der Homosexuelleninspektion der Berliner Polizei war.
Leopold von Meerscheidt-Hüllessem selbst gilt als Sympathisant der Homosexuellen. Er versteht sich als Preuße, das Wichtigste ist ihm die Wohlanständigkeit. Die Straßen mussten sauber sein, Prostitution verhindert, keine Unanständigkeiten in der protestantisch-prüden Öffentlichkeit der reichsdeutschen Hauptstadt. Aber solange schwule Aktivitäten im Privaten stattfanden, hat er kein Interesse daran, einzuschreiten.
Berlin blüht auf
Wenige Schritte sind es von Jens Doblers Büro zum Archiv, dem Herzen des Schwulen Museums. Vorbei an Ehrenamtlichen, die das Museum erst möglich machen, an Ausgaben vieler historischer Zeitschriften. Fahrstuhl ins Untergeschoss: das Lager. Dobler zieht einen grauen Karton aus einem der vielen hundert Fächer. „Das Jahrbuch der sexuellen Zwischenstufen“ steht darauf. Es ist eine der wichtigsten Publikationen aus der frühen Schwulenbewegung, von 1899 bis 1923 gab Magnus Hirschfeld das Jahrbuch heraus. Auf bräunlich-gelbem Papier finden sich frühe Erkenntnisse der Homosexuellenforschung. Aber auch viel Populärwissenschaft, Aufsätze, Zeichnungen.
„Die wichtigste Veröffentlichung war aber die hier.“ Dobler schließt ein Fach auf, in dem eine einzelne Broschüre lagert. Titel: „Was muss das Volk vom Dritten Geschlecht wissen“. Ein Aufklärungspamphlet, die wichtigsten Fakten auf 14 Seiten. In der Broschüre wird die angeborene Neigung zur Homosexualität erklärt, die restriktiven Strafgesetze. Eltern werden angesprochen: Auch Ihr Kind könnte homosexuell sein! Beispiele von bekannten Schwulen sind zu finden: Sokrates, Michelangelo, Friedrich der Große. Das Heft soll verständlich sein für den einfachen Bürger, „damit der die Regierung versteht, wenn sie auf diesen Paragraphen verzichtet“. Hirschfeld und sein WhK forderten dazu auf, das Pamphlet gratis zu verteilen, in Kneipen und Restaurants, in Zügen, bei Versammlungen. „Was muss das Volk …“ zielte auf weitestmögliche Verbreitung.
Berlins kulturelle und medizinische Elite unterschreibt Magnus Hirschfelds Petition
Das Heft endet mit einer Liste. Es sind die Namen all jener, die Hirschfelds Petition unterschrieben haben, mit Gründung des WhK begonnen und Jahr für Jahr wachsend. Bereits 1901 ist die Liste ein Glossar der medizinischen, literarischen und juristischen Prominenz des Kaiserreichs. Fünf Jahre später werden 5000 Namen auf der Liste stehen. Aus der Medizin Richard von Kraft-Ebing, Albert Moll, aus der Literatur Detlev von Liliencron, Gerhart Hauptmann, aus der Kunst Max Liebermann. Aus der Politik der Gründer der Sozialdemokratie, August Bebel, der die Petition im Reichstag erfolglos zur Debatte einbringt.
Dobler legt das Heft zurück in den Schrank. Einige Fächer weiter lagert eine weitere Berliner Publikation. „Der Eigene“ steht darauf. Erstausgabe, 3. März 1896. Das erste Schwulenmagazin der Welt. Darin finden sich Essays, Gedichte, Rezensionen. Die Zeitschrift sieht sich als Sprachrohr einer intellektuellen, städtischen, schwulen Elite. Adolf Brand, Herausgeber von „Der Eigene“, kann nichts anfangen mit Hirschfelds wissenschaftlicher Methodik. Er ist ein Kämpfer, ein Ideologe. Brand geht im Gegensatz zu Hirschfeld offen mit seiner Homosexualität um. Für ihn ist die höchste Form der Liebe die zwischen zwei virilen Männern. Er entlehnt dabei der griechischen Ästhetik: Adonis, Diskobolos, Knabenliebe. „Der Eigene“ druckt Bilder von nackten Buben, setzt sich für Päderastie ein: Die Mentorenbeziehung zwischen Jugendlichen und älteren Männern – pädagogisch, finanziell, sexuell.
1903 gründet Brand in Berlin eine eigene Organisation, die „Gemeinschaft der Eigenen“. Darin wird er die „mannmännliche Liebe“, die pure Männlichkeit ins Zentrum stellen. Das Ziel aber bleibt dasselbe wie das des WhK: die Abschaffung des Paragrafen 175. Im Einsatz für die Sache schreckt er auch nicht davor zurück, einen Abgeordneten, der ihm widerspricht, mit einer Hundeleine zu peitschen. Er musste immer wieder ins Gefängnis und machte nach der Freilassung weiter. Er war ein Freigeist, aber nicht besonders intellektuell: Brand war Antisemit, weil es sich schickte, Antisemit zu sein; er war frauenfeindlich, weil Frauenfeindlichkeit die Norm war.
Zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Reichstagswahl im März 1933, in der die Deutschen die NSDAP mit 43,9 Prozent in den Reichstag wählen, ist Berlin das weltweite Zentrum der Schwulen-, Lesben- und Transbewegung – eindrücklich beschrieben auch von dem US-Historiker Robert Beachy, dessen Buch „Das andere Berlin“ am 15. Juni im Siedler Verlag erscheint.
Das Zentrum dieses Zentrums ist heute: eine Wiese. Mitten im Tiergarten, nahe dem Haus der Kulturen der Welt, liegt ein einzelner Stolperstein, „Recha Tobias“ steht darauf, „geborene Hirschfeld“, eine Schwester des Institutsleiters.
„In den Zelten“ heißt damals die Straße durch den Tiergarten. Früher stand hier die Villa Joachim. Darin eröffnet Magnus Hirschfeld am 6. Juli 1919 das Institut für Sexualwissenschaft, die weltweit erste wissenschaftliche Einrichtung für Sexologie.
Am Institut wird direkt mit Patienten und Interessierten gearbeitet. Es gibt Sexualberatung: heterosexuelle Paare mit Eheproblemen, Homosexuelle, die nicht wissen, wie sie mit ihrer Veranlagung umgehen sollen. Menschen aus ganz Deutschland reisen an. Internationale Wissenschaftler residieren hier. Die Institutsbibliothek ist die wichtigste Sammlung sexualwissenschaftlicher Literatur der Welt. Es gibt offene Veranstaltungen, jeder darf Fragen stellen. Wer sich nicht traut, kann seine Frage anonym auf einen Zettel schreiben. Insgesamt 14 000 Fragen sollen eingegangen sein.
Hirschfeld schreibt hier Medizingeschichte: etwa mit der Operation an der Dänin Lili Elbe, die einmal Einar Morgens Wegener hieß. Ludwig Levy-Lenz, ein Arzt des Hirschfeld-Instituts, führt 1930 an Elbe die erste geschlechtsangleichende OP der Weltgeschichte aus.
In der Weimarer Zeit baut Hirschfeld neue Allianzen auf. Er arbeitet mit der stärker werdenden Frauenbewegung zusammen. Helene Stöcker, die Gründerin des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform, ist oft im Institut zu Gast. Friedrich Radzuweit, Verleger des Lesbenmagazins „Die Freundin“ und der auflagenstärksten Homosexuellenzeitschrift „Blätter für Menschenrecht“ gründet den Bund für Menschenrecht. Sie arbeiten mit unterschiedlichen Mitteln, Idealen, Voraussetzungen. Ihr Ziel bleibt gleich: die Abschaffung des Paragrafen 175.
Frauenbewegung, Schwulenmagazine, Agitpropgruppen – alle gegen den Paragafen 175
Ein anderes Zentrum der Bewegung: der Bülowbogen. In der Bülowstraße 57, wo sich früher die Lesbenkneipe Dorian Gray befand, sind heute ein Hamam und eine Karaokebar. Tobias Schwabe liest aus „Der Eigene“ vor:
Wir sind im Westen Berlins in einer Diele ‚Dorian Gray‘, genannt nach dem Roman Oskar Wildes. Einschmeichelnde Musik, elegantes Publikum, bequeme Sessel; an den Wänden gefällige Scherenschnitte. Man genießt in aller Behaglichkeit den Anblick der Tänzerpaare und freut sich über die Elastizität und die Geschmeidigkeit der jungen Gestalten. Auch Damen von beinahe männlichem Aussehen, mit forschen, vielleicht allzu forschen Bewegungen.
„Hier entstand direkt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ein Regenbogenkiez“, sagt Schwabe. Der 39-jährige Museumspädagoge bietet historische Touren in Berlin an. Er erzählt, wie sich damals in der Bülowstraße eine Bar an die nächste reiht, dazu kamen Tanzpaläste, die ebenfalls offen homosexuelles Publikum ansprechen.
Vom Bülowbogen über den Viktoria-Luise-Platz bis zum Wittenbergplatz zieht sich der Kiez in den 20er Jahren. Es ist das größte Schwulen- und Lesbenviertel der Welt. Schon deshalb, weil es nirgends etwas Vergleichbares gibt.
Im Weimarer Berlin erscheinen 30 verschiedene Zeitschriften für eine homosexuelle Leserschaft, weltweit gab es nur zwei weitere, eine in Chicago, eine in Paris. „Die Freundschaft“ und „Blätter für Menschenrecht“, die beiden wohl auflagenstärksten Publikationen, hatten eine Verbreitung von mehreren zehntausend. 132 homosexuelle Cafés und Bars soll es in Berlin geben. 1919 wird in Berlin der Film „Anders als die Andern“ aufgeführt, geschrieben von Magnus Hirschfeld – der erste Film, der offen das Thema Homosexualität behandelt. 100 000 Schwule und Lesben leben laut Hirschfelds Schätzungen in Berlin; die Franzosen nennen Homosexualität die „vice allemande“, für Italiener ist ein Schwuler ein „Berlinese“.
Die Vernichtung des Traums
Vor dem Schwulen Museum in der Lützowstraße steht ein Reisebus, fränkisches Kennzeichen, älteres Publikum. Gäste steigen aus dem Bus, „schau mal, schwules Museum“, sagt ein älterer Herr. Ein anderer stellt sich unter das Eingangsschild, lässt sich verschämt grinsend fotografieren. Das Wort „schwul“ ist noch immer gut für ein Kichern. Wieso eigentlich?
„Wir sollten uns von der Idee verabschieden, es gebe keine Homophobie mehr“, sagt Tobias Schwabe, der Führer durch Schöneberg. Die meisten Gäste seien respektvoll und interessiert, „nur wenige Male wurde es unangenehm.“ Vor allem dann, wenn jemand sich eine Paradiesvogel-Tour wünscht. Die Dragqueens, die Verkleider, die Traumtänzer. Damit man zu Hause von dem exotischen Ausflug erzählen kann.
Das ist die eine Seite. Für die andere, gefährlichere, reicht ein Blick auf das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellen im Tiergarten. Die Inschrift: „Mit diesem Denkmal will die Bundesrepublik Deutschland die verfolgten und ermordeten Opfer ehren, die Erinnerung an das Unrecht wachhalten und ein beständiges Zeichen gegen Intoleranz, Feindseligkeit und Ausgrenzung gegenüber Schwulen und Lesben setzen.“ Drei Monate nach Eröffnung wurde das Sichtfenster an der Skulptur eingeschlagen. Es wurde repariert. Vier Monate später wurde es wieder eingeschlagen. Noch mal repariert. Noch mal vier Monate später wurde es wiederum eingeschlagen.
Antischwule Gewalt ist noch immer ein Thema
Schwule Männer sind im Vergleich zur Durchschnittsgesellschaft 30 Prozent öfter Opfer von Beleidigung, 21 Prozent häufiger Opfer von Körperverletzung, 17 Prozent öfter von Nötigung und Bedrohung. In einer Broschüre vom Berliner Senat zu Gewalt gegen Lesben und Schwule wird mit einer Dunkelziffer von 800 homophoben Überfällen in Berlin pro Jahr gerechnet.
Heute sind 120 Jahre vergangen seit dem Tod des ersten Homosexuellenaktivisten Karl-Heinrich Ulrichs, 80 Jahre seit dem Tod des ersten Homosexuellenforschers Hirschfeld, 70 Jahre seit dem Tod des ersten Verlegers von Homosexuellenzeitschriften, Adolf Brand. Es ist 30 Jahre her, dass Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Rede erstmals Homosexuelle als Opfergruppe des Nationalsozialismus benennt, sich im Namen der BRD entschuldigt. Erst vor 21 Jahren wurde Paragraf 175 ersatzlos gestrichen. Erst seit 14 Jahren existiert für gleichgeschlechtliche Paare die Möglichkeit, eine eingetragene Partnerschaft einzugehen.
Um jedes Zugeständnis muss gekämpft werden.
Neue Fragen für den Schwulenaktivismus
Jens Dobler vom Schwulen Museum mahnt: „Man kann sich nicht auf die Toleranz verlassen.“ Das sei die große Lehre aus den 20er Jahren. „Wir haben viel erreicht: Gleichstellungsgesetze, Antidiskriminierungsgesetze, die eingetragene Partnerschaft“ – aber das sei alles relativ. Es fehle an aktiver Aufklärungsarbeit, an den Schulen, in den Dörfern. Dobler ist 50 Jahre alt, er ist 1980 nach Berlin gezogen, als junger Journalist für das Schwulenmagazin „Magnus“ – wie Hirschfeld. „Damals bin ich auf die Straße gegangen, um zu kämpfen.“ Heute ist er ruhiger. „Es werden andere Themen wichtiger, auch in den Forderungen, die ich an die Politik habe.“ Lebensentwurf im Alter, Pflege, Absicherung. „Wenn man nicht verheiratet ist oder nicht eingetragen verpartnert, kann man seinen Partner nach einem Unfall im Zweifel nicht im Krankenhaus besuchen“. Die „Homo-Ehe“ habe schon viel verändert. Vor allem im ländlichen Raum hat sie Akzeptanz gebracht. „Dann kann der Nachbar sagen, die zwei da drüben sind so was wie verheiratet“, sagt Dobler. So müsse man nicht mal das Wort schwul in den Mund nehmen.
„Totgeschlagen – totgeschwiegen“ steht auf dem Mahnmal für ermordete Schwule am Nollendorfplatz. Es ist einem „Rosa Winkel“ nachempfunden, dem Abzeichen, das homosexuelle Häftlinge in Konzentrationslagern tragen mussten. Tobias Schwabe steht vor der Skulptur und nickt. „Genau darum geht es“, sagt er. Um das Nicht-drüber-Sprechen. „Wir leben in Berlin unter einer Käseglocke – in einer schwulenfeindlichen Welt.“ Der respektvolle Umgang mit Homosexuellen sei nirgends verankert, das Erkämpfte müsse immer wieder neu erkämpft werden.
Homophobe Parteien und Meinungen haben Aufwind
Schwabe fürchtet, der Wind könnte sich in letzter Zeit wieder gedreht haben: Hunderttausende protestieren in Frankreich gegen die Homo-Ehe, homophobe Parteien haben Konjunktur. Prominente Publizisten veröffentlichen Artikel, in denen sie ihre Homophobie als gutes Recht verteidigen.
Berliner Regierungsviertel, 1929. Wilhelm Kahl, Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Reichstags, stimmt der Abschaffung des Paragrafen 175 zu: Er sei nicht durchsetzbar, begünstige Erpressung und verursache Suizide. Der Reichstagsausschuss beschließt die Abschaffung des Homosexuellenparagrafen. In Kürze würde die Streichung im Plenum beschlossen werden.
Das wird aber nie geschehen. Das Ende der Geschichte ist in Sicht.
Am Vormittag des 6. Mai 1933, zwei Monate nach dem Wahlsieg der NSDAP, steigen etwa 100 Sportstudenten der „Deutschen Studentenschaft“ auf Lkw. Sie haben Fahnen dabei und ein „Sieg Heil“ auf den Lippen. Ihr Ziel: In den Zelten 10. „Bei Magnus Hirschfeld wird ausgeräumt“ steht auf einem Plakat, in Sprechchören wird der „undeutsche Geist“ des Instituts gegeißelt. Mit einem Trompetensignal blasen sie zur Plünderung: Wichtige Werke der Sexualwissenschaft werden aus den Fenstern geworfen: Freud, Hirschfeld, Richard von Krafft-Ebing, rund 35 000 Fotografien.
Magnus Hirschfeld flieht
Vier Tage später wird der Bibliotheksbestand auf dem Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz, verbrannt. Ein Student trägt eine auf einem Stock aufgespießte Hirschfeld-Büste.
Der hatte Deutschland schon drei Jahre zuvor verlassen: 1930 geht er nach Informationen, dass er verfolgt werden würde, auf Weltreise – und kommt nicht wieder. Am 14. Mai 1935, seinem 67. Geburtstag, stirbt Hirschfeld im Exil in Nizza.
1935 wird der Paragraf 175 verschärft – und bleibt in der härteren Form in der BRD im Einsatz bis 1969, komplett abgeschafft wird er erst 1994. Die DDR wird bereits 1950 die Verschärfung aufheben, ihn 1988 abschaffen. Insgesamt werden 140 000 Männer nach dem Paragrafen verurteilt. Erst 1969 entsteht eine neue Homosexuellenbewegung, diesmal in New York. Die Zeit, in der Berlin an der Spitze der Bewegung stand, endete mit dem „Sieg Heil“ der Sportstudenten.
Die Eigentümergesellschaft der Otto-Suhr-Allee 93 weigerte sich 1995, eine Gedenktafel für Hirschfeld an ihrer Hauswand anzubringen. Der Bezirk Charlottenburg platzierte eine Büste des Wissenschaftlers und Vordenkers Magnus Hirschfeld auf öffentlichem Boden direkt vor dem Haus. Seit einigen Jahren liegen an jedem 14. Mai Blumen vor der Skulptur.
Die ungewollte Gedenktafel hat übrigens auch noch ein Zuhause gefunden. Bei Jens Dobler, im Schwulen Museum.
Dieser Beitrag ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.
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(Quelle: tagesspiegel.de, 13.05.2015)