China: Wie aus einem Volksbefreiungsarmee-Oberst die wahrscheinlich einflussreichste Frau des Landes wurde

China: Wie aus einem Volksbefreiungsarmee-Oberst die wahrscheinlich einflussreichste Frau des Landes wurde

Jin Xing war schon Oberst und Tänzer in der Volksbefreiungsarmee, dann Chinas erste Transgender-Frau und Gründerin des Shanghai Jin Xing Dance Theatre. Doch spätestens seit sie vor vier Jahren ins Fernsehen aufbrach, will sie Geschichte schreiben.

Jin Xing sitzt vor ihrem Schminktisch und streckt die Füße von sich, als es klopft. Herein tritt die Sängerin Jane Zhang, die gerade eben Gast in Jin Xings Talkshow gewesen ist. Zhang stemmt die Hände in die Hüfte und macht große Augen, ihr Gesicht ein Fragezeichen. „Schwester, so viel habe ich noch nie öffentlich von mir erzählt“, sagt sie: „Was hast du bloß mit mir gemacht?“

Die 30-jährige Zhang wird auch Chinas Mariah Carey genannt. Sie hat in den vergangenen zehn Jahren fünfzehn Nummer-eins-Hits gelandet und wurde sieben Mal in Folge zur besten Sängerin des Landes gekürt. Kurz: Sie ist einer der größten chinesischen Stars und hütet ihr Privatleben wie die NSA ihre Spähprogramme. Doch gerade eben hat sie in Jin Xings Talkshow einem Millionenpublikum gestanden, dass sie einen Freund hat. „Ach“, seufzt Jin Xing und fläzt sich in ihren Stuhl, „ich führe Gespräche eben auf meine Art.“

Es sind Szenen wie diese, die zeigen, wie sehr sich Jin Xings Sendung „The Jin Xing Show“ von dem Gros der chinesischen TV-Gesprächsrunden unterscheidet, das stur einem Skript folgt. Innerhalb von vier Jahren ist Jin Xing zu einer der bekanntesten TV-Moderatorinnen Chinas aufgestiegen. Und für ihre lebendige, unerschrockene und zuweilen freche Art, Gespräche zu führen, haben die chinesischen Medien ihr den Namen „Giftzunge“ verpasst.

 

Es ist ein regnerischer Junitag am Stadtrand von Shanghai, Jin Xing setzt sich auf die Couch ihrer Garderobe, um zu Mittag zu essen. Sie ist Vegetarierin, auf dem Tisch stehen Plastikschalen mit Chinakohl, Tofu und grünem Gemüse. Zwei Assistentinnen huschen durch den Raum, mal zieht die eine Jin Xings Lidschatten nach, mal flüstert ihr die andere eine Regieanweisung ins Ohr.

Jin Xing isst nur wenig, sie darf jetzt nicht müde werden, sie ist seit acht Uhr am Set, eine Show ist im Kasten, aber eine Show liegt noch vor ihr. Zwei Shows pro Tag, zwei Drehtage pro Woche: Macht vier Talkshows pro Woche. Nach Drehschluss ist sie immer völlig groggy. „Aber das muss sein“, sagt sie: „Die Show ist mir wichtig. In China ist die schwierigste Sache, man selbst zu sein. Das will ich ändern. Ich will die Chinesen zum Nachdenken bringen.

Frau China Armee 02

2011 trat Jin Xing zum ersten Mal im Fernsehen auf. „Bitte tanz nie wieder“, herrschte sie als Jurorin einer Talentshow eine Show-Teilnehmerin an, die halbnackt über die Bühne gehüpft war. In einer anderen Talentshow erklärte sie einer Tänzerin, die mit einer Fußverletzung angetreten war und dadurch die Sympathie des Moderators gewonnen hatte: „Das chinesische Fernsehen steht ja voll drauf, den Schmerz von Menschen zu konsumieren. Ich kann das nicht ausstehen. Erzähl uns jetzt bloß nicht deine Leidensgeschichte. Was du durchgemacht hast, sehen wir doch, wenn du tanzt.“ Der Moderator war baff, das Publikum applaudierte begeistert. Neun Monate später bekam Jin Xing ihre erste eigene Talkshow.

Jin Xing sagt, sie habe immer gespürt, dass das Leben Großes mit ihr vorhabe. „Welche internationalen Preise würdest du gerne gewinnen“, hat sie die Sängerin Jane Zhang während des Drehs gefragt. „Hm, da muss ich mal überlegen“, hat Zhang geantwortet. „Weißt du, du musst dich trauen, dir das vorzustellen“, hat Jin Xing gesagt: „Ich habe mir vor 15 Jahren vorgestellt, dass ich einmal die beste Moderatorin Chinas sein werde. Und heute? Heute bin ich es.“

Jin Xings Biografie liest sich wie die Synthese mehrerer Leben – kraftstrotzend, voller Brüche und Metamorphosen.

Noch vor wenigen Jahren war sie nur der Kunstszene ein Begriff. Die Gründerin des in Shanghai ansässigen „Jin Xing Dance Theatre“ ist Ballerina, gilt in China als die Beste ihrer Zunft, ja sogar als „die wahrscheinlich beste Tänzerin der Welt“ (Die Zeit). Auch innerhalb der chinesischen schwul-lesbischen Szene ist sie bekannt. Denn Chinas beste Moderatorin und beste Ballerina ist in einem männlichen Körper auf die Welt gekommen.

Jin Xing, „goldener Stern“, 1967 im nordostchinesischen Shenyang als Sohn koreanisch-stämmiger Chinesen geboren, spürt schon als kleiner Junge, dass er im falschen Körper steckt. Einmal nimmt ihn seine Schwester mit ins Kino, es läuft ein Tanzfilm. Während seine Schwester in ihrem Kinosessel schlummert, entdeckt der kleine Jin Xing seine Liebe zu Tanz und Eleganz, zu Schönheit und Weiblichkeit. Mit sechs Jahren stellt er sich während eines Gewitters vor das Elternhaus und hofft, der Blitz möge ihn treffen und in ein Mädchen verwandeln. Aber der Blitz bleibt aus.

Als Jin Xing mit neun Jahren in die Armee eintreten will, weil es dort die besten Balletttrainer gibt, versuchen die Eltern, ihrem Sohn die Flausen auszureden. Jin Xing tritt in einen Hungerstreik. Nach drei Tagen geben die Eltern nach, der Junge wird in die Tanzkompanie des Militärs aufgenommen. Acht Jahre später wird der Oberst zu Chinas bestem Tänzer gekürt.

„The Jin Xing Show“ läuft auf dem Sender Dragon Television und wird in ganz China empfangen. Deswegen schauen aber auch die Zensoren genau hin. Am Abend vor dem Drehtag – gerade ist die Talkshow wieder einmal ausgestrahlt worden – hat Jin Xing auf Weibo, dem chinesischen Pendant zu Twitter, eine Nachricht gepostet: „Ich bin so enttäuscht vom Schnitt der heutigen Sendung! Wenn das so weitergeht, muss ich Dragon Television wirklich Tschüß sagen. Ich entschuldige mich beim Publikum!“

 

Ihr Produzent neige zu Selbstzensur und lasse viel zu viel schneiden, sagt Jin Xing. Am liebsten würde sie live produzieren, aber das ist der Zensurbehörde zu heikel. Jede fertig produzierte Show muss den Zensoren vorgelegt werden. Gestrichen hätten die aber noch nie etwas, erzählt Jin Xing: „Ich sagen denen immer: Hört mal, ich weiß, wo die Grenzen sind. Ich bin Tänzerin und ich bin noch nie von der Bühne gefallen.“

Jin Xing sagt, sie spüre jetzt immer noch, dass das Leben noch Großes mit ihr vorhabe. Sie wohnt in jener Presidential Suite eines Shanghaier Fünf-Sterne-Hotels, in der 1972 Richard Nixon schlief, als er nach China reiste, um nach Jahrzehnten der Isolation die Beziehungen zwischen China und den USA zu normalisieren. Nixon schrieb Geschichte. Sieben Jahre später nahmen die beiden Staaten diplomatische Beziehungen auf.

Jin Xing wird auch Geschichte schreiben. Sie weiß das, so wie sie vor 15 Jahren wusste, dass sie einmal die beste Moderatorin Chinas sein werde. „Das ist alles nur Training“, sagt sie während des Mittagessens in ihrer Garderobe: „Wir brauchen Leute, die vorangehen. So jemand bin ich. Ich muss in die Öffentlichkeit, wenn nicht sogar in die Politik.“

1995 – nach Studienaufenthalten in den USA und in Italien – unterzog sich Jin Xing in China der ersten offiziell anerkannten Geschlechtsumwandlung. Kurz darauf zog sie nach Shanghai, in die Stadt, die sie so sehr liebt und in der sie sich zu Hause fühlt, wie nirgends sonst.

Wegen ihres Eigensinns, ihrer Eloquenz und ihres Einflusses auf die chinesische Öffentlichkeit ist Jin Xing jüngst mit Oprah Winfrey verglichen worden. Die chinesische Oprah Winfrey, die jetzt entschlossen in die Politik strebt. So einfach ist Jin Xings Geschichte natürlich nicht. Jin Xing weiß nicht nur, wo die Grenzen ihrer Talkshow liegen. Sie setzt die Grenzen auch selbst. Sie ist keine Dissidentin, die den Systemwandel fordert. Sie findet nicht, dass die Demokratie für China geeignet ist. Auch ist sie nicht gegen die Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei. Auf ihrer Agenda stehen Themen wie sexuelle Selbstbestimmung und Bildung: „Eigentlich möchte ich den Chinesen nur sagen: Nehmt nicht alles persönlich und seid einfach ihr selbst.“

Gegen sechs Uhr abends setzt sich Jin Xing in einen Minivan vor dem TV-Studio. Sie hat heute fünf Mal ihr Kleid gewechselt, zwei Showgäste interviewt, Publikumsfragen beantwortet und zwei halbstündige Stand-Up-Einlagen aufgenommen. Sie ist hundemüde und will nach Hause. Sie legt sich eine Wolljacke über die Schultern und schmiegt sich in den Autosessel. Ein paar Anweisungen an den Fahrer, ein kurzer Wortwechsel mit den Assistentinnen, dann wird es ruhig im Auto. Jin Xing schläft, während der Minivan zurück ins Zentrum von Shanghai gleitet.

„Das ist alles nur Training“, ist der Satz, den Jin Xing am Häufigsten sagt: „Da kommt noch was.“

(Quelle: krautreporter.de, 06.07.15)

 

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