Ich wurde in den 1980ern in einem kleinen Dorf im Uralgebirge geboren. Mit sieben Jahren habe ich gemerkt, dass ich schwul bin. Es dauerte 18 Jahre, bis ich mich geoutet habe. Heute bin ich Mitte Zwanzig und lebe in St. Petersburg, der zweitgrößten Stadt Russlands, von der man gemeinhin sagt, sie sei europäisch und liberal. Dass die Situation für Homosexuelle in Russland alles andere als ein Zuckerschlecken ist, dürfte aber gemeinhin bekannt sein. Seit Januar ist es sogar gestattet, Schwulen und Transsexuellen den Führerschein zu entziehen—ebenso wie beispielsweise auch Fetischisten, Pädophilen und Glücksspielsüchtigen.
Trotzdem war es mir wichtig, mich gegenüber meinen Freunden zu outen, Ich will nichts verheimlichen müssen. Manche meiner früheren Freunde haben sich aber von mir abgewendet. Als sie erfuhren, dass ich schwul bin, wollten sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Im Nachhinein war das gut so, denn das heißt, dass sie keine guten Freunde waren—ein guter Freund ist jemand, der dich akzeptiert so wie du bist. Generell ist es in Russland gefährlich, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Auf offener Straße händchenhaltend rumzulaufen, gleicht einer Provokation. Man kann beleidigt und angegriffen werden. Als ob das nicht schlimm genug wäre, gibt es kaum Menschen, geschweige denn Polizisten, die dich öffentlich verteidigen würden.
Das Schulsystem ist darauf ausgelegt, Schwule als abartig zu stigmatisieren
Aufgrund meiner Sexualität hatte ich bereits große Probleme. Als ich als Deutsch- und Englischlehrer an einem Gymnasium in St. Petersburg gearbeitet habe, nahm ich an einer LGBT-Kundgebung am 1. Mai teil. Dabei wurde ich als Teilnehmer von der Presse fotografiert. Die Fotos sind durchs Internet kursiert und in einer Zeitung aufgetaucht. Vertreter der Schule und Lehrer aus dem Kollegium haben mich auf diesen Fotos gesehen und gefragt, was das solle—als ob es ein Verbrechen sei.
Ich sagte aufrichtig, dass ich schwul bin und mich für die Rechte von Homosexuellen einsetze. Ich hab das nicht angekündigt oder herausposaunt und meine Arbeitskollegen wären auch nie darauf gekommen, aber sie haben mich nun mal auf den Fotos wiedererkannt. Die Empörung war groß, nicht nur innerhalb des Lehrerkollegiums: Die Eltern der Schüler teilten der Schule mit, ich verseuche ihre Kinder mit falschen Ideen. Der Direktor der Schule hat mir daraufhin mitgeteilt, ich müsse kündigen, denn sie wollen hier keine Probleme haben. Das war schon etwas schockierend, aber auf der anderen Seite wusste ich ganz genau, dass ich hier nicht arbeiten möchte, wenn man mich nicht akzeptiert. Ich habe dann mehr oder weniger „freiwillig“ gekündigt.
Ich glaube, das ganze Schulsysteme ist darauf ausgelegt, Schwule als etwas Anderes und Abartiges zu stigmatisieren. Kinder sollen nicht lernen, dass Menschen gleich sind, sondern dass der heterosexuelle Weg der „richtige“ und der homosexuelle der „falsche“, der kranke ist. Außerdem sollen Männer und Frauen möglichst jung heiraten. Ich kenne selbst viele Männer, die nur verheiratet waren, weil die Gesellschaft, die Familie, das Elternhaus es forderten. Sie haben jung Frauen geheiratet und sich später scheiden lassen. Erst nach vielen Jahren haben sie verstanden, dass sie vom anderen Geschlecht angezogen sind. Eine Tatsache, die sie sich aus Konformitätszwang vorher nicht eingestehen wollten—oder konnten.
Homosexuelle flüchten in die Großstädte
Viel schlimmer als die Anfeindungen seitens meines Arbeitgebers ist aber die Häme, der man im Alltag ausgesetzt ist. Auf Kundgebungen wird man als Demonstrant regelrecht verfolgt. Die Leute schreien „Schwuchtel! Schwuchtel!“, als würden wir das sowieso nicht ständig in Russland hören. Ein anderes Beispiel dafür, wie tief die Diskriminierung von Nicht-Heterosexuellen in der allgemeinen Denke der russischen Bevölkerung verankert ist? Als ich kürzlich in einer Karaokebar war, hat eine Freundin meinen Auftritt mitgeschnitten und auf dem sozialen Netzwerk Vkontakte, dem russischen Äquivalent zu Facebook, hochgeladen. Einer ihrer Freunde kommentierte: „Das Lied ist im Original von einer Frau. Ist das eine Schwuchtel, oder was?“. Und selbst wenn? Es ist so bescheuert, dass es überhaupt weibliche und männliche Lieder gibt. Und meinetwegen bin ich schwul und singe ein weibliches Lied in einer Karaokebar, aber bin ich deshalb ein schlechterer Mensch? Manchmal sind es gerade diese kleinen Sachen, die einen besonders ankotzen.
Trotz der prekären Situation von Homosexuellen hat sich eine Schwulenszene in Moskau und St. Petersburg gebildet. Einer der größten Nachtclubs in St. Petersburg ist ein Schwulenclub. Dabei hat auch das Internet eine große Rolle gespielt, es war eine richtiggehende Befreiung, die uns ermöglicht hat, überhaupt erst in Kontakt zu kommen. Es bringt zusammen, was zusammengehört, und Apps zum Kennenlernen gibt es zuhauf. Ich nutze Grindr und Hornet. Was im ersten Moment so klingt, als sei Russland eben doch sehr offen und aufgeschlossen, ist in Wahrheit nur ein verzerrtes Bild der Gesellschaft. Die meisten—eigentlich alle—Homosexuelle ziehen nach Moskau und St. Petersburg, in der Hoffnung, in den Großstädten auf Gleichgesinnte zu treffen. Wenn man aber in kleineren Städten oder gar der Provinz wohnt? Vergiss es, dort sind Weltbilder noch viel konservativer und Homosexuelle ausnahmslos weggezogen. Dabei spielt auch die Politik des Landes eine große Rolle.
Es ist ein großes Schauspiel
Vitali Milonov ist Mitglied von Putins Partei „Einiges Russland“. Er hat das Gesetz gegen homosexuelle Propaganda persönlich erlassen. Milonov ist religiös, verheiratet und hat Kinder. An der Hetzjagd gegen Schwule ist er oft persönlich beteiligt: Er lässt Schwulenclubs schließen und Gay-Paraden auflösen. Einmal sagte er sogar, dass er einen schwulen Sohn zur Heilung zum Priester schicken würde. In der Homosezene munkelt man aber, dass er selbst schwul ist. Es gibt Privatfotos von ihm, auf denen er mit Männern—nie mit seiner Ehefrau—zu sehen ist, zum Beispiel in Flugzeugen, die ihn in den Urlaub fliegen. Ich glaube, dass das ein großes Schauspiel ist: Milonov will Geld verdienen, er will Macht haben, er will Volksvertreter sein und Karriere machen. Deswegen ist er darauf angewiesen, der Öffentlichkeit etwas vorzumachen.
Vitali Milonov bei einer Demonstration. Foto: imago/ITAR-TASS
Was er privat macht, ist egal, solange er in öffentlichen Positionen auf einer Linie mit der Regierung ist. Jeder Politiker, der die Emanzipation von Schwulen fordert, würde sich selbst ins Bein schießen. Die Regierung hat kein Interesse, die Situation von Homosexuellen zu verbessern. Es ist schließlich bequem, so wie es ist: Wir sind eine verhasste Minderheit. Es ist vielleicht nicht vergleichbar mit der Situation der Juden in Nazideutschland, aber die Logik dahinter ist die gleiche: Die sind anders, Schuld am Werteverfall und wollen unsere Kinder verrohren. Es ist einfach, Sündenböcke wie uns zu finden. In der Hinsicht gleichen sich Homosexuelle, Europäer und Amerikaner: Ihnen wird heutzutage in Russland vorgeworfen, dass sie ein Interesse daran hätten, dass das Land zerfällt, dass es dem Land schlechter geht.
Ich habe Angst davor, auf der Straße zusammengeschlagen zu werden
In nächster Zeit wird sich die Lage von Homosexuellen nicht ändern. Vielleicht in 60, 70 Jahren, in drei Generationen, aber nicht in absehbarer Zeit. Es gibt zwar durchaus Bewegungen und Initiativen, diese werden aber abgewürgt und unterdrückt. Das heißt konkret: Entweder verprügeln die Polizisten Demonstranten oder sie inhaftieren sie. Ich persönlich habe auch Angst. Ich habe an paar Kundgebungen teilgenommen, aber ich will nicht, dass man mich auf der Straße zusammenschlägt, mir meinen Job kündigt oder mich ins Gefängnis sperrt, nur weil ich mich für meine Rechte einsetze.
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Zu Russland habe ich ein sehr zwiegespaltenes Verhältnis: Ich erkenne es als meine Heimat an, wohl fühle ich mich hier aber nicht. Innerhalb der nächsten zwei Wochen werde ich nach Deutschland auswandern. Mein Freund wohnt in einer großen Stadt im Osten von Deutschland, dort leben wir in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Mit diesem Entschluss bin ich sehr glücklich. Ich habe dort jemanden, der mich liebt, den ich liebe, und mich erwartet eine Gesellschaft, die mich akzeptiert so wie ich bin. Auch in Deutschland gibt es genügend homophobe Arschlöcher, aber die gesellschaftliche Akzeptanz ist bedeutend größer. Während die Bundesrepublik aktuell die Gleichstellung der Homo-Ehe diskutiert, werden Homosexuelle in meiner Heimat durch die Straßen gejagt.
Das Gespräch wurde geführt, aufgezeichnet und niedergeschrieben von Jan Karon. Folgt ihm auf Twitter.