Tango in der Kaiserzeit

Tango in der Kaiserzeit
„Tanzschule ist Lebensschule in der Kaiserzeit: Denn auf dem Parkett der Ballsäle sollen bleibende Verbindungen geknüpft werden. Fehltritte sind nicht erwünscht. Doch dann kommt der Tango.“
Ein Artikel aus dem Tagesspiegel – als Teil einer Reihe über den Alltag und die Lebensbedingungen zur Jahrundertwende (vom 19.zum 20. Jhdt.), inkl. dazu gehörigen interessanten Fotos in dem Quellen-Link ganz unten.  Hier der Artikel zum Tanzen: 

Mit Tango fängt man kleine Mädchen

Tanzschule ist Lebensschule in der Kaiserzeit: Denn auf dem Parkett der Ballsäle sollen bleibende Verbindungen geknüpft werden. Fehltritte sind nicht erwünscht. Doch dann kommt der Tango.

Es ist den konzentrierten Gesichtern der Schülerinnen ebenso anzusehen wie dem strengen Blick der Lehrerin. Die Schritte, die hier eingeübt werden, dienen nicht dem Vergnügen, sondern sollen das Schicksal entscheiden. Denn über die Schwellen der Ballsäle führt der Weg der Mädchen in den sicheren Hort von Ehe und Familie. Fehltritte sind da nicht erlaubt. Darum sind die Hausmädchen oder Mütter pünktlich zur Stelle, um die Töchter nach dem Ende der Tanzstunde abzuholen, „so dass ihnen keine Minute zum Rendezvous mit ihrem verliebten Sekundaner verbleibt“, heißt es zu dem Foto mit dem Titel „Tanzstunde in Berlin W.“ in der Februar-Ausgabe 1905 der Zeitschrift „Berliner Leben“.

Frau Oberleutnant Sommer leitet den Kurs in der Kleiststraße 36, erfahren wir in der Bildunterschrift zu dem obigen Foto. Das Regiment, das sie in ihrem Tanzsaal führt, erinnert durchaus ans Militärische. Uniformiert in weißen Kleidern stehen die Mädchen in Reih und Glied, schüchtern senkt ein jedes seinen Blick auf den ausgestellten Fuß. In der Bildmitte nimmt Frau Sommer die Parade ab, während sich die jungen Herren abwartend im Hintergrund halten dürfen. Hier führt ausnahmsweise eine Dame. Die natürliche Ordnung wird dadurch nicht infrage gestellt. In den Ballsälen wie überall im Deutschen Reich führen die Herren, und die Damen werden geführt. So ist es Sitte, so hat es Gott bestimmt, so will es Seiner Gnaden irdische Majestät: Das Weib soll dem Mann Untertan sein wie das Volk seinem Kaiser. Wer wird da aus der Reihe tanzen?

 

 

 

Das Comité des Gesindeballs von 1898. "Pickelhaube und Hamburger Häubchen, packender Adler und schöne Täubchen... Ein kleines Bild aus der bunten Schar der stets heiteren Dienstboten", schreibt die Monatszeitschrift "Berliner Leben" im Februar 1898. Na ja, so leicht und lustig wie auf diesem Bild war das Leben für das Personal in der kaiserlichen Reichshauptstadt wahrhaftig nicht immer.

             Das Comité des Gesindeballs von 1898.   „Pickelhaube und Hamburger Häubchen, packender Adler und schöne Täubchen…   Ein kleines Bild aus der bunten Schar der stets heiteren Dienstboten“, schreibt die Monatszeitschrift „Berliner Leben“ im Februar 1898. Na ja, so leicht und lustig wie auf diesem Bild war das Leben für das Personal in der kaiserlichen Reichshauptstadt wahrhaftig nicht immer.

Charleston, Ragtime, Boston Valse und Tango – die neuen Tänze kommen aus Amerika

Aber Frau Oberleutnant soll sich wundern. Bald schon werden sich ihre Mädchen kaum noch für Walzer, Menuett und Polka interessieren. Aus Amerika kommen – begünstigt auch durch die Massenproduktion von Schallplatten und Grammofon – „moderne Tänze“ nach Europa: Cake-Walk, Ragtime und Charleston und der Boston Valse, die neue, elegante Art des langsamen Walzertanzens. Doch kein Tanz erregt die Gemüter mehr als der Tango.

Nachdem 1907 die argentinische jeunesse dorée die Pariser Jugend mit den melancholisch-sinnlichen Klängen ihrer Heimat in ihren Bann zieht, dauert es nur wenige Jahre, bis die Tangomanie ganz Europa ergreift und auch die Tanzsäle Berlins erobert. Und eine ganze Modewelle nach sich zieht, vom „jupe culotte“, dem lasziven Hosenrock übers Parfum bis zum Tangotee als neuem gesellschaftlichen Event. Mit dem Tango erfindet sich die industrielle Popkultur, die das neue Jahrhundert prägen wird – und wie noch oft danach vermarktet sie Musik und Tanzstile aus den amerikanischen Slums, indem diese allmählich dem Massengeschmack des bürgerlichen Großstadtpublikums angepasst werden.

Die Erotik des Tango – sie reizt die Fans ebenso wie die Tugendwächter des sittenstrengen Kaiserreichs. Im Kampf gegen die „Wackel- und Schiebetänze“ ruft der „Verein Berliner Tanzlehrer“ den Polizeipräsidenten Traugott von Jagow zu Hilfe. Der teilt mit, „dass die Polizeireviere angewiesen sind, auf anstößige Tänze ihr besonderes Augenmerk zu richten und erforderlichenfalls Strafanzeige zu erstatten“, und zwar gegen die Tänzer ebenso wie gegen die Saalbesitzer. Doch weder die Betreiber der Tanzsäle noch die Tanzlehrer können es sich leisten, nicht auf der Welle mitzureiten. Jeder Widerstand ist zwecklos.

Schlager-Komponist Hugo Hirsch bringt es 1914 auf den Punkt in seinem Titel „Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein. Das wird zuletzt auch die zäheste Tanzlehrerin schwach.

 

(Quelle: tagesspiegel.de, 01.09.14)

 

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