Respektpreisgewinner Halil İbrahim Dinçdag im Interview über Homosexualität in der türkischen Gesellschaft
04.01. – Im November 2014 ging der Respektpreis des Bündnisses gegen Homophobie an Halil İbrahim Dinçdag. Nachdem 2009 seine Homosexualität öffentlich wurde, fand der türkische Schiedsrichter keine Arbeit mehr. Seitdem kämpft er dafür, wieder Fußballspiele in der Türkei pfeifen zu dürfen. SIEGESSÄULE bat ihn zum Interview.
Halil, was hat es dir bedeutet, mit dem Respektpreis in Berlin ausgezeichnet zu werden? Ich bin sehr stolz, diese Auszeichnung erhalten zu haben. Sie hat meinen Kampf gewissermaßen gekrönt und mir viel Kraft und Energie gegeben.
Wie ist der Umgang mit Homosexualität in der türkischen Gesellschaft? Gibt es unter Erdogan zurzeit einen konservativen Rollback? Dem Thema wird in der türkischen Bevölkerung recht unterschiedlich begegnet. Wenn du als Künstler oder Sänger, als Schauspieler oder Model arbeitest, bekommst du auch trotz homosexueller Identität Applaus. Aber wenn du als Staatsbeamter tätig bist, gibt es sehr wohl Probleme. Ja, für Homosexuelle ist es schwierig in der Türkei. Die Situation hat sich aber eigentlich nicht verschlimmert, denn sie war ohnehin schon immer schlecht. Erdogans konservative Haltung ist umstritten. Ich glaube nicht, dass er wirklich konservativ, sondern eher vollkommen machtverrückt ist und daran arbeitet, ein einzigartiges, möglichst einflussreiches Land hervorzubringen.
Siehst du im Islam Homophobie bereits angelegt oder welche Strukturen würdest du aus deiner Erfahrung für die Diskriminierung von LGBTIs verantwortlich machen? Geschlechtsverkehr wird bei Homosexuellen als Sünde betrachtet, ebenso wie Sex ohne vorherige Eheschließung. Aber lieben und geliebt zu werden ist in meiner Religion heilig, da gibt es keinen Unterschied. Sie befiehlt uns, alles aus Allahs Schöpfung anzunehmen, ohne jede Form der Diskriminierung. Wenn zum Beispiel ein Mensch getötet wird, ist dies mit der Tötung der ganzen Menschheit gleichzusetzen – unabhängig von Religion, Sprache, Konfession oder Geschlecht. Ich könnte noch andere Beispiele nennen. Die Probleme existieren eher, weil es in der Türkei nicht genügend Informationen über das Thema Homosexualität gibt. Die dafür Verantwortlichen sitzen auf den Leitungsebenen. Und wie überall auf der Welt sind die Politiker das größte Problem. Sie scheinen nicht daran interessiert, Probleme zu lösen, sondern eher Probleme zu erzeugen. Davon leben sie schließlich. Und der Fußball ist sicherlich eine der Domänen für Homophobie. Das beste Beispiel dafür ist meine Geschichte. Ich glaube auch nicht, dass der Fifa und UEFA der Kampf gegen Homophobie besonders ernst ist.
Dein Fall führte in der Türkei zu einer öffentlichen Diskussion über den Umgang mit Homosexualität im männerdominierten Fußball. Von welcher Seite oder welchen Institutionen bist du angegriffen worden und von welcher Seite hast du Unterstützung erfahren? Nach meinem öffentlichen Coming-out haben die Medien mich zu 90 Prozent unterstützt, ebenso ein großer Teil der Bevölkerung. Es gab auch durchaus Politiker, die mir geholfen haben. Direkt angegriffen wurde ich von den Leitern und Direktoren der Fußballclubs. Dazu kamen Mafiagruppen, die sich als Retter des Volkes aufgespielt haben. Sie wollten, dass ich das Land verlasse, und haben gedroht, mich zu töten. Im Fußball gab es zumindest versteckte Unterstützer wie Schiedsrichter und Spieler. Hätten sie mich öffentlich unterstützt, wäre ihnen wahrscheinlich selbst unterstellt worden, homosexuell zu sein. Im ersten Jahr nach dem Coming-out konnte ich auch noch stark auf die Hilfe türkischer Homosexuellenvereine bauen. Nachdem das Medieninteresse nachließ, fühlte ich mich aber wieder alleine. Nun muss ich auf mich gestellt mit den Schwierigkeiten und verbalen Anfeindungen zurechtkommen.
Das gesamte Interview gibt es in der Januarausgabe der Siegessäule – auch zum digitalen Nachlesen hier
Interview: Andreas Scholz, Übersetzung: Gonca Ari
(Quelle: SIEGESSÄULE.DE; 04.01.2015)