Hass auf Schwule nach außen, Homophilie im Innern

Hass auf Schwule nach außen, Homophilie im Innern

Frédéric Martel hat ein Buch über die Auswirkungen der versteckten Homosexualität in der katholischen Kirche geschrieben. Es könnte den Vatikan erschüttern.

Im Herzen der katholischen Weltkirche herrschen Bischöfe, die Homosexualität offiziell ablehnen und unterdrücken, aber selbst homosexuell sind. Diese Doppelmoral ist nach Ansicht des französischen Journalisten und Autors Frédéric Martel einer der Hauptgründe für das funktionierende Macht- und Schweigekartell innerhalb des Vatikans. Und ein Schlüssel für die anderen großen Probleme der Kirche: den sexuellen Missbrauch, das Festhalten am Zölibat, den Kampf gegen Kondome, die Frauenfeindlichkeit und den Priestermangel.

Martels Buch In the Closet of the Vatican – Power, Homosexuality, Hypocrisy wird am 21. Februar in mehr als 20 Ländern und zehn Sprachen erscheinen – genau an dem Tag, an dem der Missbrauchs-Krisengipfel in Rom beginnt. ZEIT ONLINE hatte die Möglichkeit, das Buch vorab zu lesen und veröffentlicht hier exklusiv Ausschnitte daraus. Eine deutsche Ausgabe soll im Sommer folgen.

Der Vatikan ist eine der größten homosexuellen Gemeinschaften der Welt. Selbst in einem so symbolträchtigen Schwulenviertel wie Castro in San Francisco, das heute allerdings etwas durchmischter ist, dürfte es kaum so viele Schwule geben.

Für die älteren Kardinäle ist dies in der Vergangenheit begründet: Ihre stürmische Jugend und ihre schelmischen Jahre vor der Emanzipation durch die Schwulenbewegung erklären ihr Doppelleben und ihre Homophobie alter Schule. Ich habe mich während meiner Recherchen oft in die 1930er oder 1950er Jahre zurückversetzt gefühlt, eine Zeit also, die ich aus eigener Anschauung gar nicht kenne, mit ihrer Doppelmentalität von auserwähltem Volk und verfluchtem Volk. Sie brachte einen der Priester, die ich oft traf, auf die Formel: „Willkommen in Sodom!“

Man begreift, dass man ein System bloßstellen muss, das vom kleinsten Priesterseminar bis zum Allerheiligsten – dem Kardinalskollegium – zugleich auf einem homosexuellen Doppelleben und einem wahnwitzigen Schwulenhass beruht. Der Vatikan ist die letzte Bastion, die noch befreit werden muss. Vielen Katholiken ist diese Lüge mittlerweile bewusst.

„Kultur der Geheimhaltung“

Ohne diesen Schlüssel bleibt die jüngste Geschichte des Vatikans und der römisch-katholischen Kirche undurchsichtig. Wenn wir uns die ausufernd homosexuelle Dimension nicht bewusst machen, fehlt uns ein entscheidendes Element zum Verständnis der meisten Tatsachen, die die Geschichte des Vatikans seit Jahrzehnten beflecken. Ich meine etwa die verborgenen Motive, aus denen heraus Paul VI. die Verurteilung der künstlichen Empfängnisverhütung und des Kondoms aufrechterhielt und die strikte Pflicht der Priesterschaft zum Zölibat bestätigte; den Kampf gegen die „Befreiungstheologie“; die Skandale der Vatikanbank unter der Leitung des renommierten Erzbischofs Marcinkus (der ebenfalls homosexuell war); die Entscheidung, Kondome als Mittel im Kampf gegen Aids zu verbieten, selbst als die Pandemie über 35 Millionen Menschen das Leben kostete; die Affären um die Vatileaks 1.0 und 2.0; die sich wiederholende und oft unergründliche Frauenfeindlichkeit vieler Kardinäle und Bischöfe; den Amtsverzicht Benedikts XVI.; die aktuelle Rebellion gegen Papst Franziskus … Obwohl Homosexualität in all diesen Fällen eine entscheidende Rolle spielt, können die meisten darüber nur mutmaßen, da ihre wahre Geschichte nie wirklich erzählt worden ist.

Natürlich erklärt die homosexuelle Dimension nicht alles. Sie ist aber ein Schlüssel, um den Vatikan und seine moralischen Haltungen zu verstehen. Leider ist die Homosexualität auch einer der Schlüssel zur Erklärung der institutionalisierten Vertuschung der sexuellen Verbrechen und Verfehlungen, die inzwischen in die Zehntausende gehen. Die „Kultur der Geheimhaltung“, mit der allein sich das Schweigen über die massive Präsenz der Homosexualität in der Kirche bewahren ließ, hat es ermöglicht, den sexuellen Missbrauch zu verbergen, während die Täter von dieser systematischen Protektion innerhalb der Institution profitierten. Doch geht es diesem Buch nicht um Pädophilie. „Wie viel Schmutz es in der Kirche gibt“, sagte Kardinal Ratzinger, als ihm das Ausmaß der versteckten Homosexualität durch einen Geheimbericht dreier Kardinäle klar wurde, dessen Inhalt man mir beschrieb und der einer der Hauptgründe für seinen Amtsverzicht war.

„Die Lebenslüge des Vatikans“

Sein Buch beschreibe, sagt Martel im Interview mit ZEIT ONLINE, „die Lebenslüge des Vatikans“. Gut möglich, dass sein Buch das nächste Erdbeben in der Kirche auslöst, die durch den Missbrauch ohnehin aufgewühlt ist. Sein Titel: „In the Closet of the Vatican“, hinter den Schranktüren des Vatikans. To come out of the closet ist die englische Wendung für: sich als homosexuell offenbaren.

Vier Jahre, sagt Martel, habe er recherchiert, 1.500 Informanten befragt, darunter 41 Kardinäle, 52 Bischöfe und 45 Nuntien, also Botschafter des Vatikans, um das verschwiegene, widersprüchliche System des Vatikans zu verstehen, die Welt unverheirateter, geweihter Männer, die ihren 1,2 Milliarden Gläubigen Sanktionen auferlegen, die sie selbst nicht einhalten. Die dadurch erpressbar sind und einander schützen.

Franziskus selbst spricht von einer „Homosexuellen-Lobby“

Papst Franziskus will Licht in die Verlogenheit bringen – und sieht sich nun „als Ziel einer Kampagne wegen seiner angeblichen Liberalität bei der Sexualmoral“, sagt Martel. Franziskus selbst sprach von einer „Homosexuellen-Lobby“. Martel ist dagegen der Meinung, dass es keine Lobby im Sinn einer organisierten Interessenvertretung gibt, sondern eine Mehrheit mit verschiedenen Meinungen – aber dem gemeinsamen Interesse, die Vertraulichkeit über schwule Priester zu wahren, auch wenn sie offiziell gelebte Homosexualität verdammt.

Franziskus weiß, dass er die Position der Kirche weiter entwickeln muss und dass er dies nur um den Preis eines schonungslosen Kampfes gegen all jene tun kann, die Sexualmoral und Homophobie als Deckmantel für ihre eigene Heuchelei und ihr Doppelleben nutzen. Aber genau da liegt das Problem: Diese heimlichen Homosexuellen sind in der Mehrheit, mächtig und einflussreich. Und die Unbelehrbarsten unter ihnen sind in ihren homophoben Äußerungen auch sehr laut.

Hier ist der Papst: Von ihm, der von allen Seiten bedroht und attackiert und grundsätzlich kritisiert wird, sagt man, er sei „unter die Wölfe geraten“. Stimmt nicht ganz: Er ist unter die Tunten geraten.

Wie ist diese Doppelmoral zustande gekommen? Martels Erklärung lautet so: Der Vatikan hat sich vor mehr als einer Generation gegen die sexuelle Liberalisierung gestemmt, die die Homosexualität aus der Tabuzone holte. Er zementierte den Zölibat und die Dominanz der Männer. Jetzt steckt er fest: Mit seiner rückwärtsgewandten Moral muss er das Tabu aufrechterhalten. Aber viele Geistliche sind diesem Druck nicht gewachsen.

Gerhard Ludwig Müller, der abgesetzte Präfekt der Glaubenskongregation, sagte jüngst im Spiegel: „Übrigens bin ich der Meinung, dass kein Mensch gottgewollt als Homosexueller geboren wird.“ Er behauptete das in einer Umgebung, von der Martel sagt, sie sei durch „fifty shades of gay“ geprägt: von vorsichtigen homophilen Neigungen bis zur Homosexuellensauna, nach Martels Darstellung gekauft vom Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, dem früheren Regierungschef des Vatikans unter dem deutschen Papst Benedikt XVI.

„Auftreten wie eine Drag Queen“

Nun gibt es keine Statistiken über homosexuelle Priester, Bischöfe und Kardinäle. Auch Martel liefert keine. Er nennt wenig Namen. Denn er wolle, sagt er, niemanden wegen seiner Sexualität an den Pranger stellen, sondern das System durchschauen und die Schweigespirale aufbiegen.

Umso deftiger geraten Martel die Darstellungen von Kardinälen, ihren Spitzenumhängen und ihrem femininen Gehabe. Allen voran der von Papst Franziskus entmachtete und zur Überraschung aller wieder rehabilitierte amerikanische Kardinal Raymond Leo Burke, ein erklärter Gegner von Franziskus, der sich gern und oft mit den ausladendsten Hüten, den prächtigsten Gewändern und längsten Schleppen fotografieren ließ. Er sei der Tradition verpflichtet, sagt Burke selbst. Deshalb ziehe er Bischofsgewänder aus früheren Jahrhunderten an. Martel, der ihn besucht hat, lässt das Argument der Tradition nicht gelten: „Sein Putz und sein Auftreten wie eine Drag Queen sprechen eine andere Sprache.“

Martel ist auch Burkes Verbindungen zu konservativen Politikern nachgegangen. Der Kardinal, sagt er, habe sich von US-Präsident Donald Trump und dessen früheren ultrarechten Chefstrategen Steve Bannon finanziell unterstützen lassen – ein Beispiel für traditionalistische Netzwerke. Es gibt sie auch in Deutschland. Zum Beispiel in Regensburg.

Gloria von Thurn und Taxis (Ihr Spitzname: „TNT“) ist typisch für die Grauzone zwischen den Christsozialen von der CSU und der harten Rechten von der AfD, die sich in ihrem Hass auf die „Gendertheorie“, ihrem Kampf gegen Abtreibung und Homoehe und ihrer Verurteilung von Angela Merkels Einwanderungspolitik einig sind“, sagte mir der katholische Theologe Michael Brinkschröder in München.

Wir sind damit im Zentrum eines sogenannten „Regensburger Netzwerks“, einer Gruppierung, in der die Sonnenkönigin Gloria „TNT“ den hellen Stern bildet, um den „tausend blaue Teufel tanzen“. Die Prälaten Gerhard Ludwig Müller, Wilhelm Imkamp und Georg Gänswein haben sich in diesem „wohlmeinenden“ Zirkel immer wohl gefühlt; hier sind die Butler livriert und die Torten mit „60 Marzipanpenissen“ dekoriert (wie der deutschen Pressezu entnehmen ist). Gloria von Thurn und Taxis versteht sich auch als Dienstleisterin: Sie setzt sich für die schwulenfeindlichen Bücher ihrer Freunde ein, für reaktionäre Kardinäle wie Müller und den ultrakonservativen Robert Sarah aus Guinea oder Joachim Meisner, mit dem zusammen sie einen Interviewband herausgebracht hat.

Unter Benedikt sei der Vatikan unregierbar geworden

Vernichtend gerät Martels Urteil über die Regierungszeit Benedikts XVI. Unter dem Pontifikat der roten Schuhe sei der Vatikan unregierbar geworden. Papst Paul VI. habe das Problem der Doppelmoral verursacht, Johannes Paul II. in seinen 27 Regierungsjahren heranwachsen lassen. Doch unter Benedikt sei es außer Kontrolle geraten. Benedikt habe es in seinem theologischen Konservatismus und seiner politischen Ungeschicktheit nicht wahrgenommen oder nicht wahrhaben wollen. So habe es sich ungehemmt entfalten können.

Das Pontifikat Benedikts XVI. begann voller Elan und mündete in eine rasche, nicht enden wollende Abfolge von Skandalen. In der Schwulenfrage wurde der Kampf gegen Homosexuelle wie zurzeit von Johannes Paul II. unvermindert weitergeführt, sodass die Heuchelei in schönster Blüte stand: Hass auf Homosexuelle nach außen, Homophilie und Doppelleben im Innern. Der Zirkus ging weiter.

„Das schwulste Pontifikat der Geschichte“, urteilte der Priester Krzysztof Charamsa. Diese Formulierung über die Jahre unter Benedikt XVI. wiederholte der suspendierte Priester, der lange Zeit in der Glaubenskongregation unter Joseph Ratzinger gewirkt hatte, mehrfach. Wie ein Kurienpriester bemerkt, war es „nicht leicht, unter Benedikt XVI. heterosexuell zu sein“. Charamsa bemerkte: „Ich bin todtraurig, wenn ich an Benedikts Pontifikat denke, einen der dunkelsten Momente im Leben der Kirche, in dem verzweifelt versucht wurde, die schiere Existenz der Homosexualität mit Homophobie zu verbergen.“ Je höher hinauf man während des Pontifikats Benedikts XVI. in die Hierarchie des Vatikans blickte, desto mehr Homosexuelle fand man. Die Mehrheit der vom Papst ernannten Kardinäle sollen wenigstens homophil gewesen sein, manche sogar sehr „aktiv“.

Papst-Begleiter machen sich an junge Mönche heran

„Unter Benedikt XVI. hatte ein homosexueller Bischof, der sich den Anschein der Keuschheit gab, größere Chancen, zum Kardinal erhoben zu werden, als ein heterosexueller Bischof“, verrät mir ein bekannter Dominikanermönch, ein Kenner des Ratzingerschen Denkens, der die Papst-Benedikt-XVI.-Gastprofessur in Regensburg innehatte.

Auf seinen Reisen wurde der Papst stets von einigen seiner engsten Mitarbeiter begleitet. Zu ihnen gehörte jener bekannte Prälat, den eine Zeitung auf den Namen „Monsignore Jessica“ benannte. Angeblich nutzte er die regelmäßigen Besuche des Heiligen Vaters in der Basilika Santa Sabina in Rom, dem Sitz des Dominikaner-Ordens, um jungen Mönchen seine Visitenkarte in die Hand zu drücken. Sein „Anmachspruch“ war weltweit Thema, nachdem ihn ein Bericht in der Zeitschrift Vanity Fair publik gemacht hatte: Er versuchte sich an Seminaristen heranzumachen, indem er ihnen vorschlug, man könne sich zusammen das Bett von Johannes XXIII. anschauen. „Er war sehr ›körperbetont‹ und vertraulich mit den Seminaristen“, räumt der Priester Urien ein, der ihn dabei erlebt hat. Zwei weitere extrem schwule, dem Papst zugeordnete Bischöfe, die Ratzinger mit ihrer Zuneigung umringten und dem Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone nahestanden, stellten gerne Jungen nach. Ihre unter Johannes Paul II. ausgefeilten Techniken perfektionierten sie unter Ratzinger.

Investigative Fleißarbeit

In einem Kontext, der bereits das Ende einer Ära darstellte, kam der Apparat des Vatikans nach weniger als fünf Jahren seines Pontifikats fast völlig zum Stillstand. Benedikt XVI. verbarrikadierte sich in seiner Menschenscheu und begann oft zu weinen. Vizepapst Bertone, von Natur aus misstrauisch, wurde völlig paranoid. Er erblickte überall Komplotte, Machenschaften, Intrigen. Und so weitete er seine angeblichen Überprüfungen aus, die Gerüchteküche kochte über, die Dossiers wuchsen, und immer mehr Telefongespräche wurden durch das Gendarmeriekorps des Vatikans abgehört.

In den Ministerien und Kongregationen des Vatikans gab es zahlreiche Kündigungen, freiwillige wie unfreiwillige. Im Staatssekretariat, dem Nervenzentrum der Macht, kümmerte sich Bertone persönlich um den „Frühjahrsputz“, so misstrauisch war er gegenüber Verrätern und sogar mehr noch gegenüber Schlaubergern, die ihn in den Schatten zu stellen drohten. In der Folge wurden diverse Judasse, Petrusse und Johannesse, die alle unter demselben Dach lebten, aufgefordert, das „letzte Abendmahl“ zu verlassen.

Martels Buch ist eine investigative Fleißarbeit. Natürlich kann er keine Zahlen von homosexuellen Klerikern vorlegen, das liegt in der Natur der Sache. Doch er geht erstaunlich offen mit seinen Quellen um. Außerdem versichert er glaubwürdig, dass es ihm einzig darum gehe, den Widerspruch im System zu entlarven. Das ist ihm gelungen.

Frédéric Martel: „Sodoma, Enquête au coeur du Vatican“, Editions Robert Laffont, 23€, erscheint am 21.02.2019Frédéric Martel: „In the Closet of the Vatican – Power, Homosexuality, Hypocrisy“, Bloomsbury, 26,99 Euro, erscheint am 21.2.2019.
Weltrechte und Koordinierung der ausländischen Ausgaben: Éditions Robert Laffont.
Übersetzung der Buchauszüge: Michael Adrian

 

(Quelle: zeit.de, 17.02.2019)

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