Eine EM ist für die Teilnehmer*innen in erster Linie natürlich (leider?) eine ziemlich ernste Angelegenheit, denn schließlich geht es auch um Leistung, um Fehlerfreiheit und Perfektion, um Konkurrieren und Gewinnen. Das Lampenfieber war messbar (nun ja, zumindest spürbar). Umso erfreulicher war der Versuch der Veranstalter*innen, mit einem zwischendurch in der Wettkampfpause stattfindenden „Spaßturnier“ einer möglicherweise aufkommenden Verbissenheit entgegenzuwirken und nicht nur die Turnierteilnehmer*innen, sondern auch die Zuschauer*innen daran zu erinnern, dass die meisten von uns doch einmal aus oder mit Spaß zum Tanzen gekommen sind!
Und so hieß es im Ankündigungstext zu dem „Queer- und Fun-Wettbewerb“:
Du hast Freude an Bewegung oder magst das Entertainment oder dich Verkleiden. Du wolltest schon immer mal mit deiner „Perle“, deinen Freund_innen, Verwandten oder Bekannten tanzen. Du wolltest mit deinem/deiner Tanzpartner_in schon immer mal die Rollen wechseln. Du kannst Tanzen, aber die Wettbewerbe der EC sind nichts für dich. Du kannst nicht tanzen, aber du wolltest schon immer mal auf der Fläche stehen. Warum ihr mitmacht, ist uns ganz egal, wir haben uns für euch was ganz Besonderes ausgedacht: Den Queer & Fun Wettbewerb!
Weitere Infos zu diesem Wettbewerb in unserem Beitrag
Die fesche Lola tanzt zur Holzauktion den Schwanensee
Letztendlich trauten sich jedoch nur vier Paare in der eher wettkampforientierten Atmosphäre der EM, an solch einem Spaßturnier teilzunehmen, bei dem nicht Takt & Musikalität, Technik und Balance bewertet werden sollten, sondern Ausgelassenheit, Ausgefallenheit, Ausstaffierung und Ausdauer.
Für die „Jury“, die sich überwiegend aus Freizeit- und Breitensporttänzer*innen zusammensetzte (auch ich war für GleichTanz.de dabei), waren die ungewöhnlichen Bewertungskriterien keine einfache Angelegenheit, und so tanzten die Paare mit viel Elan, aber ohne besondere „Ausstaffierung“, zu zwei Schlagern von der Dietrich und der Knef, sowie zur Grunewalder Holzauktion. Die meisten schienen jedoch sichtlich bemüht, „richtig“ zu tanzen, denn genau genommen „traute“ sich keines der teilnehmenden Paare, alle vier aufgelisteten Kriterien zu „erfüllen“ – eigentlich noch am ehesten eines, und das war dann auch noch ein gemischt-geschlechtlich tanzendes Paar (aber dafür gab es keinen „Punkteabzug“), das allerdings an der „Ausstaffierung“ gespart hatte.
Der ebenfalls geplante Teil einer eher freieren Improvisation zu Tschaikowskys „Schwanensee“ mußte allerdings wegen fehlender Anmeldungen ausfallen. Verständlicherweise, denn es würde wirklich viel Mut dazugehören, sich während eines solch tänzerisch zum Teil hochkarätigen Wettbewerbs mit freiem und regel- und technikunabhängigem Tanzen auf die Bühne zu begeben!
(Hinweis für die, die selbst nicht dort waren und nur die Videoaufnahmen kennen: Die Kameras stehen meist oben auf einer Tribüne und streifen nur die gegenüberliegende Seite Zuschauer*innen. Die meisten Zuschauenden sitzen jedoch auf der Tribüne).
Umso größerer Dank gilt den vier teilnehmenden Paaren, die diesen Mut aufbrachten, und die durch die positive Resonanz und Wertschätzung des Publikums reich belohnt wurden! Ihre Teilnahme ermutigt vielleicht auch andere, bei zukünftigen Wettbewerben dieser Art selbst einmal mitzutanzen!?
Großer Dank gebührt auch den Veranstalter*innen für die Organisation dieses Wettbewerb-Teils während der „richtigen“ EM , denn dadurch wurde versucht, eine Brücke zwischen den Zuschauer*innen auf den Sitzen und den Turniertänzer*innen auf der Bühne zu schlagen. Sicherlich konnten sich die meisten Zuschauenden (die ja überwiegend selbst ein bisschen mehr oder weniger tanzen) mit den Spaßturnier-Tänzer*innen gut identifizieren: Hätte ich den Mut, teilzunehmen? Wie würde ich tanzen, wie „ausgelassen“ würde ich mich fühlen und wieviel würde ich mich trauen? Was wäre mir peinlich (und vor wem)?
Das ist ganz im Sinne von GleichTanz.de, denn ein wichtiges Anliegen unseres Portals ist es, die Grenzen zwischen gelegentlichen Spaß- und Freizeittänzer*innern, zwischen regelmäßigen Breitensport- und intensiv trainierenden Leistungssporttänzer*innen zu überwinden, um ein Forum für alle zu schaffen, die Freude am gleichgeschlechtlichen und gleichberechtigten Paartanzen haben.
Eine entsprechenden „Brückenschlag“ haben wir vor über zwei Jahren z.B. auch dadurch versucht, dass wir zu den Berliner Meister*innenschaften zusätzlich einen GleichTanz-Leser*innen-Preis vergeben wollten. Dem Aufruf, „Jury-Mitglied“ zu werden folgten zwar einige Interessierte, aber dann gab es bei ihnen zum Teil doch zu große Bedenken, ob sie das denn „richtig“ machen und den „Ansprüchen“ genügen würden usw. Dabei ging es auch hier nicht um traditionelle „Wertungskriterien“ für ein Turnier, sondern insbesondere um die Frage des Gesamteindrucks und das, was bei dem Paar an Freude am gemeinsamen (!) Tanzen rüberkommt. Frei nach dem Motto: Welches teilnehmende Paar (der D- oder C-Klasse, also der eher breitensportorientieren Tänzer*innen!) wäre am besten z.B. für ein Werbevideo, das andere zum Tanzen motivieren könnte, geeignet?! Aber auch hier hatte die Frage des „richtig“ und „falsch“ eine solch hemmende Wirkung, dass die Jury letztendlich nicht zustande kam.
In der gleichgeschlechtlichen Tanzgemeinde insgesamt und insbesondere bei den Turnieren scheint im Vergleich zu gemischt-geschlechtlichen Turnieren der traditionellen Tanzsportverbände die Atmosphäre generell entspannter, wertschätzender und solidarischer zu sein. Wo etwa wäre es z.B. so selbstverständlich wie in der gleichtanz-Szene, dass z.B. auch rollstuhlfahrende Tänzerinnen in dem Showgruppen-Wettbewerb mittanzen!? Wie viel Mut mussten die Rollstuhlfahrer*innen haben, und wie viel Unterstützung haben sie bekommen?
Eingebettet in ein überwiegend solidarisches Umfeld sollten auch wir versuchen, eigene Bedenken und Hemmungen zu überwinden, und deshalb versucht GleichTanz.de, mit seinen Beiträgen nicht nur zum Tanzen, sondern speziell auch zur Teilnahme an Turnieren zu motivieren und zu ermutigen.
Apropos „Wertschätzung“: Dass es im Netz hauptsächlich Fotos und Videos der A- und B-Klassen-Wettkämpfe gibt, ist wohl auch ein Indiz für eine eher leistungsorientierte Betrachtung des Turniergeschehens. Und dass es vom „Spaßturnier“ scheinbar überhaupt kein Video zu geben scheint, verwundert dann natürlich auch nicht. Umso größeren Dank an unseren „Videochronisten“ Stefan Conradi, der dies für GleichTanz.de auf Film festgehalten hat (siehe unten!).
Apropos „Spaß“: Den gab es zum Teil auch bei den Showtänzen, und von den weiteren Videos, die Stefan drehte, hat er bisher die originellen Aufführungen des Showtanzpaares Sören & Bradley und der Showtanzgruppe von pinkballroom fertig bearbeitet (siehe unten) und auf seine YouTube-Seite gestellt.
Günther Schon
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Video des „Spaß-Wettbewerbs“ bei der EM 2017 in Berlin (am 28.07.17):
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Video der Aufführung von Sören & Bradley (Showtanzpaare) bei der EM 2017 in Berlin (am 28.07.17):
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Video der Showtanzgruppe von pinkballroom bei der EM 2017 in Berlin (am 28.07.17):