Indien: „Wenn die Mutter ihren schwulen Sohn vergewaltigt“

Indien: „Wenn die Mutter ihren schwulen Sohn vergewaltigt“
Die meisten Opfer von „korrektiven Vergewaltigungen“ in Indien schweigen aus Scham und Angst. Nach Vergewaltigungen von Frauen geraten in Indien jetzt „korrektive Vergewaltigungen“ zur „Heilung von Homosexualität“ in die Schlagzeilen. Die protestantischen Kirchen Indiens verurteilen sie als „grausame Ungerechtigkeit“.
 
Mit dem Slogan „Incredible India“ wirbt Indien um Touristen. Die kulturelle, die ethnische, die religiöse, die natürliche Vielfalt Indiens ist in der Tat unglaublich bunt, reich, aufregend und verwirrenden. Unglaublich ist aber auch die tägliche sexuelle Gewalt gegen Frauen, Mädchen, Kinder und sexuelle Minderheiten. Dazu gehören auch sogenannte „korrektive Vergewaltigungen“ von Lesben, Schwulen und Transsexuellen. Ziel der Brutalität: Das Opfer die Freuden des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs erleben zu lassen und den Menschen so von der Homo- oder Transsexualität zu „heilen“.

„In der Regel sind es Eltern oder nahe Verwandte, die ein homosexuelles Familienmitglied vergewaltigen“, berichtet Deepthi Tadanki. Sie recherchiert und dreht den Film „Satyavati“, der die fiktive Geschichte der „korrektiven Vergewaltigung“ einer lesbischen Inderin erzählt. Die Arbeit an dem Film stockt allerdings derzeit, weil das Crowdfunding noch nicht die kompletten 16 Lakh Rupien (das indische Zahlwort steht für 100.000) eingebracht hat, oder umgerechnet 1,6 Millionen Euro. „40 Prozent des Films sind schon abgedreht. Jetzt muss ich erst Geld auftreiben, bevor ich weiterdrehen kann“, erzählt die 27 Jahre alte Filmemacherin aus Hyderabad.

Schweigen aus Angst und Scham

Es gibt kaum konkrete Informationen und Zahlen über das Ausmaß von „korrektiven Vergewaltigungen“ in Indien. „So mancher in der Gay Community hat von Leuten gehört, denen das passiert ist. Aber niemand weiß was genaues. Es wird nicht offen darüber gesprochen und die Opfer schweigen aus Scham und Angst“, sagt Tadanki.

Dass das Thema überhaupt in Indien öffentlich wurde, ist Tadankis noch unfertigem Filmprojekt zu verdanken. Die Times of India hatte darüber Anfang Juni einen Artikel „Parents use ‘corrective rape’ to ‘straight’en their gay kids“ veröffentlicht, der weit über Indien hinaus Wellen geschlagen hat.

Vyjayanti Mogli arbeitet für das Kriseninterventionsteam des „LGBT Collective“ in Telangana. Dort konnten fünfzehn Fälle von „korrektiven Vergewaltigungen“ dokumentiert werden. „Es sind gewöhnlich Vettern, die für dieses ‚Projekt‘ herangezogen werden“, sagt Mogli. Aber es habe auch Fälle von Vergewaltigungen schwuler Männer durch die eigene Mutter gegeben.

Homosexualität ist in Indien verboten. Bestrebungen zur Abschaffung des antihomosexuellen Paragrafen 377 aus der britischen Kolonialverfassung sind bisher gescheitert. Im Dezember 2013 hob der Supreme Court eine Entscheidung von 2009 auf und erklärte den Paragraphen 377 für verfassungsgemäß. Bestrafung von Homosexualität sei kein Verfassungsbruch, befanden die Richter damals.

Es geht auch tolerant: „Suche Bräutigam für meinen Sohn“

Die vorübergehende Entkriminalisierung der Homosexualität nahm der Nationale Rat der Kirchen in Indien (NCCI) zum Anlass, sich mit der Stellung Homosexueller in der indischen Gesellschaft zu beschäftigen. Im Mai 2104 veröffentlichte der Dachverband von 71 protestantischen und orthodoxen Kirchen, Organisationen und Institutionen in Indien ein Dokument als „Bekenntnis zur Vielfalt – Verteidigung der Rechte sexueller Minderheiten: Ein Appell an indische Glaubensgemeinschaften“.

„Korrektive Vergewaltigungen“ verdammt Roger Gaikwad, Generalsekretär des NCCI, gegenüber evangelisch.de als „grausame Ungerechtigkeit“ der „patriarchalischen Gesellschaft“ Indiens. Von solchen Vergewaltigungsfällen in christlichen Familien hat Gaikward noch nichts gehört, aber er räumt ein, das auch nicht ausschließen zu können. „Wenn so etwas passiert, bleibt es sehr geheim“, sagt Gaikward und fügt jedoch hinzu, solche Vergewaltigungen hätten „nichts mit Religionen zu tun, sondern mit der sozio-kulturellen Realität einer Gesellschaft“.

Padma Iyer steht für ein anderes, ein tolerantes Indien. Die Frau aus Mumbai ist Mutter eines offen schwulen Sohnes. Er heißt Harish Iyer und ist von seinem Leben als Bürgerrechtler so sehr in Anspruch genommen ist, dass er bisher keine Zeit für einen Lebenspartner hatte. Also griff Mutter Padma ein und wollte im vergangenen Mai eine Kontaktanzeige für den Sohn schalten. Text: „Suche gut situierten, tierliebenden vegetarischen, 25-40 Jahre alten Bräutigam für meinen Sohn.“

Das erwies sich als schwieriges Unterfangen. Die großen Zeitungen Indiens lehnten die Schaltung der Anzeige „aus rechtlichen Gründen“ ab. Erst das in Mumbai erscheinende Boulevardblatt Mid-Day bewies Mut und akzeptierte die Annonce.

Mit Vorurteilen aufräumen

Im Oktober vergangenen Jahres erzählte Padma Iyer in ihrem Facebook-Aufruf zu einem „Marathon für Gleichheit“, wie schwer es ihr anfangs gefallen war, ihren schwulen Sohn zu akzeptieren. „Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte… Ich habe mich dann entschlossen, mehr über Homosexualität zu erfahren. Mir wurde klar, wie traumatisch es für mein Kind und andere Kinder sein muss, in einer mit Vorurteilen beladenen Gesellschaft zu leben.“ Um mit diesen Vorurteilen aufzuräumen, habe sie sich als Mutter eines schwulen Sohnes geoutet.

Mütter, die im Namen der Normalität schwule Söhne vergewaltigen oder männliche Verwandte mit der Vergewaltigung lesbischer Töchter beauftragen sind für Harish Iyer, 36, „Realitäten unserer Welt“, ebenso wie seine Mutter Padma. Iyer kennt auch Realitätsverweigerer. „Im Hinduismus ist Homosexualität ein Tabuthema. Ich habe Hindupriestern ins Gesicht gesagt, dass ich schwul bin. Sie lächeln und reden über was ganz anderes, als ob sie nichts gehört hätten.“

Filmemacherin Deepthi Tadanki ist rein zufällig auf das Thema „korrektive Vergewaltigungen“ gestoßen. „Ich habe mal einen Artikel über ‚korrektive Vergewaltigungen‘ in Südafrika gelesen. Das machte mich neugierig. Ich hatte davon noch was gehört. Beim googeln fand ich heraus, dass so etwas auch bei uns in Indien passiert. Aber das Thema wird totgeschwiegen. Deshalb wollte ich darüber einen Film machen.“ Zu ihrem Erstaunen habe sie bei den Recherchen entdeckt, dass auch Männer Opfer dieser Form der sexuellen Gewalt werden: „Ich hatte angenommen, das betreffe nur lesbische Frauen“, sagt Tadanki.

Die Ablehnung von Homosexualität ist tief verankert

Bei der Arbeit zu ihrem Film musste Tadanki erleben, wie tief verwurzelt die Ablehnung von Homosexualität in der indischen Gesellschaft ist. „Selbst viele meiner gebildeten Freunde reagieren mit Unverständnis. Lesbisch oder schwul zu sein halten sie für falsch und eine Schande für die Familie.“ Durch die Geschichte in der Times of India hat die Filmemacherin jedoch auch viele positive Reaktionen erhalten. Zu ihrem Bedauern wurde dieser Zuspruch allerdings bisher nicht von Spenden für ihr Filmprojekt begleitet. „Ich stecke immer noch in einem finanziellen Engpass“, sagt sie.

Vor der Aktion von Padma Iyer hat Tadanki eine hohe Achtung. „Es ist gut, dass eine Mutter zu ihrem schwulen Sohn steht. Das zeigt auch, dass sich in der indischen Gesellschaft etwas ändert. Aber das ist ein langsamer Prozess. Viele Eltern haben noch nicht den Mut von Padma Iyer.“

Die Kontaktanzeige war erfolgreich. Immerhin 150 schwule Männer haben Harish Iyer geschrieben. 148 erhielten freundliche Absagen. Übrig blieben ein christlicher Inder und einer aus Südindien. „Ich habe mich schon mit beiden getroffen.“ Mehr will Harish noch nicht verraten. Aber vielleicht gibt es bald eine große, opulente Schwulenhochzeit, die von Indiens Medien nicht ignoriert wird. Und vielleicht bringt das wiederum die eine oder andere Familie mit Plänen zur „korrektiven Vergewaltigung“ schwuler Söhne oder lesbischer Töchter zum Nachdenken.

 

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(Quelle: evangelisch.de, 03.07.15)

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