Schwule, Lesben & das neue Gesicht des Westens

Schwule, Lesben & das neue Gesicht des Westens

Sexuelle Minderheiten geniessen in immer mehr Ländern immer mehr Rechte. Das muss kein Zeichen für eine Kulturrevolution sein. Die Entwicklung ist in der Emotionsgeschichte des Westens angelegt.

Ein Sprecher der Separatisten im Osten der Ukraine erklärte vor einiger Zeit, seine Leute kämpften auch gegen das «Europa der Schwuchteln». Darin versteckt sich eine existenzielle Drohung: Im Einzugsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann «Schwuchtel» nicht nur ein Schimpfwort, sondern auch ein «Todesurteil» sein, so Wanja Kilber vom Verein Quarteera, einem Berliner Zusammenschluss russischsprachiger Lesben und Schwuler.

Nicht auf den Westen beschränkt

Autokraten und Islamisten in Osteuropa, Asien und Afrika teilen dieses neue Feindbild der Homosexuellen. Sie haben vor allem durch zwei Ereignisse neue Nahrung erhalten. Erstens durch das Referendum in Irland im Mai, bei dem über 62 Prozent der Bevölkerung dafür gestimmt haben, das Recht homosexueller Paare zu heiraten in der Verfassung zu verankern. Und zweitens durch die Entscheidung des Höchsten Gerichts der Vereinigten Staaten im Juni, das Verbot von Eheschliessungen zwischen Homosexuellen in einzelnen Gliedstaaten seinerseits aufzuheben und damit das Rechtsinstitut der Ehe im gesamten Land für Lesben und Schwule zu öffnen. Das Wort vom freien Westen hat eine neue Bedeutung angenommen, ohne dass man darum den Rest der Welt geschlechterpolitisch abschreiben dürfte.

Auch ausserhalb des Westens gibt es bemerkenswerte Entwicklungen. Die grosse Mehrheit der Argentinier und Brasilianer betrachtet Schwule und Lesben als Gleiche unter Gleichen. In Südafrika dürfen gleichgeschlechtliche Paare seit 2006 heiraten und Kinder adoptieren. In China werden sexuelle Minderheiten vom Staat in Ruhe gelassen und können sich zumindest in den grossen Städten sichtbar kulturell entfalten. Japan verbietet zwar noch homosexuelle Ehen, kennt jedoch nicht die Verfolgungswut christlicher oder islamischer Kulturen gegen die «Sünde» der Homosexualität.

Europa ist gespalten

Auffällig sind zudem die Unterschiede in den Rechts- und Moralauffassungen, die weiterhin in Europa bestehen. Sozialstatistiker fragen regelmässig danach, ob Bürger die Homosexualität von Freunden, Nachbarn oder Politikern akzeptieren und ob sie homosexuelle Ehen oder das Adoptionsrecht für Schwule und Lesben für gerechtfertigt halten. Bei allen diesen Umfragen ist die Zustimmung regelmässig in Ländern wie den Niederlanden, Dänemark, aber auch der Schweiz am grössten, während sich am unteren Ende der Skala Länder wie Russland, Lettland oder Kroatien versammeln.

Die Frage, wie mit sexueller Vielfalt und Geschlechternormen umgegangen werden soll, hat Nationen mobilisiert und Kulturkämpfe ausgelöst. So gelten in Russland Schwule als Gefahr für das Vaterland, während in Dublin am Abend des Referendums Tausende feiernde Menschen die Nationalhymne und andere patriotische Balladen anstimmten, um ihr Land zu besingen.

Ein Geschichte, die weit zurückreicht

Was wir beobachten, ist eine Fortschreibung von Trends, die tief in der Emotionsgeschichte Europas und ihrer Siedlergesellschaften auf anderen Kontinenten angelegt sind. Bereits um das Jahr 1800 herum, als junge Leute allmählich nicht mehr aus strategischen und familienpolitischen, sondern allein um der Liebe willen heiraten wollten, befürchteten Sozialkonservative, dass jetzt massenhaft die «falschen» Individuen einander das Ja-Wort geben würden. Noch viel früher waren es christliche Prediger im Mittelalter, die die Ehe auch dann für unauflöslich erklärten, wenn sie kinderlos blieb. Damit schufen sie unabsichtlich die ideelle Grundlage für eine Entwicklung, die nach und nach das Prinzip der Ehe von der Fortpflanzung ablöste.

Die deutliche Zunahme der Akzeptanz nicht nur von sexuellen Minderheiten, sondern auch der entsprechenden ehelichen Verbindungen hat viele, oft länderspezifische Gründe. Manchmal war es schlicht die für alle erkennbare moralische Korruptheit der Verteidiger der angeblich traditionellen Kleinfamilie, die den Ausschlag gegeben haben dürfte. In den USA haben sich konservative Gruppen unter anderem dadurch diskreditiert, dass sie zum Boykott von Firmen aufriefen, die homosexuelle Mitarbeiter gleichstellen wollten. In Irland war die katholische Kirche nach dem Bekanntwerden ihrer langen Geschichte des systematischen sexuellen Missbrauchs von Kindern in einer ähnlich schlechten Lage, dem Volk Moral zu predigen.

Keine Kulturrevolution

Von einer Kulturrevolution in Nordwesteuropa, Nordamerika und Teilen Lateinamerikas kann gleichwohl keine Rede sein. Die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen verträgt sich nämlich bestens mit der Wertschätzung der Familie. Der Kulturwissenschafter Peter Rehberg spricht sogar von einer «Assimilationspolitik» gegenüber Lesben und Schwulen, die im liberalen Amerika gar nicht mehr als sexuelle Wesen betrachtet würden, sondern nur noch als ganz nette, etwas anders gestrickte Brüder und Schwestern. Aus dieser Perspektive werden durch das Projekt Homo-Ehe ehemals bedrohlich wirkende Minderheiten buchstäblich in den Kreis der bürgerlichen Familie zurückgeholt.

Eine solche Kritik berührt allerdings nicht den Kern der Sache, um die es bei den jüngsten Entscheidungen in Irland und den USA ging. Das Modell «Mama, Papa, Kind» ist nur eines von mehreren Arrangements, die sich unsere Gattung ausgedacht hat, und vielleicht nicht einmal das erfolgreichste. Studien haben gezeigt, dass es den adoptierten oder «künstlich» gezeugten Kindern, die bei gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, an nichts fehlt. Bei der Formulierung von Verfassungsgrundsätzen kommt es darauf an, die Tatsache anzuerkennen, dass Sexualität so individuell und vielfältig ist wie Gesichter und Stimmen. Alles wird gut, so der Genfer Calvinist Rousseau, «wenn man die Menschen nimmt, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können».

Volker M. Heins ist Leiter des Forschungsbereichs Interkultur am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und lehrt politische Theorie an der Ruhr-Universität Bochum.

(Quelle: nzz.ch, 29.07.2015)

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