Queerer Tango: Parodie auf Geschlechternormen

Queerer Tango:  Parodie auf Geschlechternormen

„Kaum ein Tanz ist heterosexueller als der Tango.  Doch gerade der wird immer queerer:  Immer mehr Tänzer*Innen wechseln zwischen den Rollen als Führende und Folgende. Und enttarnen so elegant die Geschlechterrollen des Alltags“ ….
Ein anregender Artikel aus der taz, auf den uns unsere Leserin Kerstin Kallmann aufmerksam gemacht hat.

Darüber hinaus sei auf den GleichTanz-Beitrag zum „Queer Tango Book“ verwiesen … In diesem Buch findest Du weitere Betrachtungen zur Theorie des gleichgeschlechtlich und queer getanzten Tangos!


  „Parodie auf das große Schauspiel“  von Lou Zucker

Kaum ein Tanz ist heterosexueller als der Tango.  Doch gerade der wird immer queerer:  Immer mehr Tänzer*Innen wechseln zwischen den Rollen als Führende und Folgende. Und enttarnen so elegant die Geschlechterrollen des Alltags.

Er führt, sie folgt. Er geht vorwärts, sie rückwärts. Er hat den Raum im Blick, passt auf, dass ihr nichts passiert. Sie konzentriert sich nur auf ihn. Er überlegt sich, wo es langgeht. Sie versucht, seine Signale zu lesen. Dabei hält er sie in enger Umarmung, ihre Bewegungen sind grazil feminin: gestreckte Beine, die zu schließen sind nach jedem Schritt. Ihre hohen Schuhe und ihr fliegender Rock lassen ihre schlanken Beine noch länger aussehen, das kurze Top betont ihren flachen, definierten Bauch. Sie tanzen einen Tanz, der nichts anderes ist als ein Dialog zwischen zwei Körpern, und der dadurch etwas sehr Erotisches an sich haben kann. Zweigeschlechtlichkeit, traditionelle Geschlechterrollen, Körpernormen, heterosexuelle Erotik.

Man könnte sich kaum ein größeres Schauspiel der Heteronormativität vorstellen als Tango Argentino. Und genau hierin liegt sein subversives Potenzial.

Ich hatte seit drei Jahren als Frau in der Rolle der Folgenden Tango getanzt. Als ich mit meinen männlichen Freunden damals in den Anfänger*innenkurs ging, fragten wir uns gar nicht, wer von uns führen und wer folgen lernen wollte. Es erschien uns selbstverständlich, ebenso wie es unseren damaligen Lehrer*innen selbstverständlich erschien, zu sagen: Die Männer machen dies, die Frauen machen das. Drei Jahre später belegten wir erneut einen Anfänger*innenkurs. Diesmal, um die Seite des Tanzes zu lernen, die wir uns die ganze Zeit über hatten entgehen lassen.

Queere Tango-Szene

Damit sind wir nicht die Einzigen. In Berlin, der zweitgrößten Tangometropole nach Buenos Aires, hat sich seit Langem eine eigene Queer-Tango-Szene etabliert. Zwar sind die explizit queeren Tangoevents noch relativ selten, im Vergleich zu den täglich stattfindenden traditionellen. Doch mehrere Locations in der Hauptstadt veranstalten monatliche queere Tangoabende – teilweise schon seit zehn Jahren.

Die meisten queeren Tänzer*innen können sowohl führen als auch folgen, unabhängig davon, welchem Geschlecht sie sich zuordnen. Es ist normal, dass man einander vor dem Tanz fragt: „Möchtest du führen oder folgen?“ – und sich in den Rollen auch mal abwechselt. Ebenso geschlechtsunabhängig wird mit dem unausgesprochenen Gebot der Abendgarderobe gespielt: Menschen mit langen Haaren und weiten Pluderhosen tanzen neben anderen mit Bart, Hemd und hohen Schuhen.

Doch auch die traditionelle Tangoszene wird zunehmend queer durchsetzt. Auf vielen Tangoveranstaltungen – auch wenn sie sich nicht explizit als queer bezeichnen – ist es selbstverständlich, mehrere Paare auf der Tanzfläche zu sehen, die sich nicht an das Mann-führt-Frau-folgt-Schema halten. Unter den Berliner Tangolehrern gibt es Männer, die für ihre Folgekünste bekannt sind, und immer mehr Frauen, von Anfängerinnen bis Profis, ziehen sich zwischendurch die High Heels aus und führen einander. Es sei denn, sie tragen eh Turnschuhe, was zunehmend in Mode kommt. Bei der Eröffnungsshow des großen Berliner Mainstream-Tangofestivals „Embrace“ vor einem Jahr tanzten zwei Männer miteinander.

Wieso konnte ausgerechnet Tango ein Ort queerer Umdeutung werden? Warum interessieren sich so viele Trans*menschen, Lesben, Schwule und Queers überhaupt für einen derart heterosexuell und zweigeschlechtlich geprägten Tanz? Es stimmt, Tango ist ein Schauspiel der Heteronormativität. Mehr noch, es ist eine Komödie.

Herzzereißend-melancholische Musik mit Zwanziger-Jahre-Schellackplatten-Knistern, hingebungsvoll geschlossene Augen, leidenschaftlich ineinander verschlungene Beine, der Atem der einen am Ohr des anderen, dazu spanische Songtexte wie: „Und die Verzweiflung, als ich dich gehen sah / Gebrochen vor Emotion meine arme Stimme“ – all das ist so dramatisch, dass man fast schon wieder darüber lachen muss.

Das Skript einfach umschreiben

Ähnlich verhält es sich mit den Geschlechterollen im Tango: Die Normen heterosexueller Erotik werden so derart auf die Spitze getrieben, dass man sie kaum noch ernst nehmen kann. Damit ist Tango ein perfektes Beispiel für das, was die Philosophin und Queer-Theoretikerin Judith Butler als Strategie vorschlägt, um Geschlechternormen zu unterwandern: sie zu parodieren. Sichtbar zu machen, dass unsere alltäglichen Darstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit nichts anderes sind als „die Kopie einer Kopie einer Kopie“, zu der es kein Original gibt. Tango ist der perfekte Ort, um Geschlecht als das zu enttarnen, was es ist: ein großes Schauspiel.

Was könnte außerdem spannender und spaßiger sein, als die geballte Heteronormativität des Alltags konzentriert in einer solchen Tanzkomödie in der Hand zu halten – und das Skript einfach umzuschreiben? Selbst wenn mensch es will: Im Alltag Geschlechternormen zu durchbrechen, ist nicht immer einfach.

Unsere vergeschlechtlichte Sozialisation hat sich oft so tief in den Ritzen unserer Gefühle und Handlungen eingenistet, dass sie nur schwer zu erkennen, geschweige denn anzutasten ist. Beim Tango jedoch liegen die Rollen klar und ordentlich sortiert vor uns und lassen sich einfacher aneignen. Der Tanz als abgegrenzter Raum zum „echten Leben“ bietet dabei etwas Schutz: Wer „als Mann“ Tango tanzt, hat nicht notwendigerweise mit den gleichen Konsequenzen zu rechnen wie die, die „als Mann“ zur Arbeit kommt.

Völlig neue Erfahrung der Wirkmächtigkeit

Es war ein Erlebnis, das erste Mal zu führen: Während ich beim Folgen versuche, mich voll und ganz auf die Signale der führenden Person zu konzentrieren, hatte ich jetzt auf einmal einen Überblick über den Raum, hörte mehr auf die Musik. Ich verspürte das Bedürfnis, meine Tanzpartnerin zu beschützen, dafür zu sorgen, dass sie mit niemandem zusammenstieß, den Tanz angenehm für sie zu gestalten, sie zu überraschen. Diejenige zu sein, die sich jeden der gemeinsamen Schritte ausdenkt und die folgende Person dazu einlädt, war eine völlig neue Erfahrung der Wirkmächtigkeit: Ich denke, „setze deinen linken Fuß dorthin!“ – und die andere Person tut es tatsächlich!

Gleichzeitig kann die Führendenrolle einen Druck aufbauen, den ich als Folgende so nicht kannte. Als Führende bin ich allein dafür verantwortlich, dass mir nicht die Ideen ausgehen, dass sich die folgende Person nicht langweilt und vor allem, dass ihr auf der engen Tanzfläche kein fremder Stiletto-Absatz den Fuß durchbohrt. Die andere der zwei geschlechter-stereotypen Tangorollen auszuprobieren, verschaffte mir Zugang zu Erfahrungswelten, die ich noch nie in dieser Form betreten hatte. Es erlaubte mir den Hauch einer Ahnung, was mir meine weibliche Sozialisation täglich an Empfindungen vorenthält.

Sie führt, sie folgt. Ihre umeinander schwingenden Röcke betonen ihre eleganten Drehungen. Das Lied wechselt, sie lachen und tauschen die Führung. Neben ihnen tanzt die Person im Hosenanzug virtuos mit der Person mit den festlich hochgesteckten Haaren, dem glattrasierten Kinn und den glitzernden hohen Schuhen. Während die zwei Tangolehrer mit ihren akrobatischen Verzierungen die Blicke auf sich ziehen und mitten in der Bewegung die Rollen hin- und hertauschen, fragt der ältere Herr, der sein Leben lang geführt hat, seine junge Tanzpartnerin, ob sie ihn nicht einmal führen könnte. Sie kann.

Quelle: taz.de (24.08.15)

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